Getragen von der Energie der Postapartheid

Die Auszeichnung für J. M. Coetzee zeigt, dass auch nach der Aufarbeitung der Rassentrennung kreative Literatur aus Südafrika kommt

JOHANNESBURG taz ■ „Es beantwortet endlich die oft gestellte Frage, was aus südafrikanischer Literatur ohne Apartheid wird.“ Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an J. M. Coetzee sei von enormer Bedeutung für das neue Südafrika, erklärt Ronald Suresh Roberts, Biograf von Nadine Gordimer, die 1991 als erste Südafrikanerin für ihr bisheriges Gesamtwerk in Stockholm ausgezeichnet worden war.

„Die politische Route – das war von den Literaten zu erwarten“, meint Roberts. Denn die Verarbeitung der Apartheidjahre und die Betrachtungen in den turbulenten Zeiten des Umbruchs bezeichnen die produktivsten Phasen für Schriftsteller in Südafrika. „Coetzee aber beweist eine gleich starke Kreativität, getragen von den Energien im Postapartheid-Südafrika.“ Die vergangene Dekade habe gezeigt, das sich Coetzee literarisch in den Neunzigerjahren von den Ereignissen im Apartheidregime wegbewegt hat.

Für die Welt der südafrikanischen Literaten- und Literaturkenner kommt die höchste Ehrung für Coetzee nicht überraschend. Professor David Attwell, Leiter der englischen Abteilung an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, beschreibt seine komplexen Werke als wichtigen Beitrag zur Reifung der literarischen Kultur in Südafrika. „Komischerweise wird Coetzee hier wenig gelesen – die Südafrikaner kennen ihn kaum.“ Stephen Watson, Leiter der Fakultät für englische Sprache an der Universität von Kapstadt, wo Coetzee zeitweise als Literaturprofessor unterrichtete, stuft den 63-jährigen Autor gar als Erbfolger von Franz Kafka ein. Er befasse sich wie kaum ein anderer literarischer Zeitgenosse mit existenziellen Fragen. Und Schriftstellerkollege Andre Brink erklärte, Coetzee sei in der Tat diejenige Person in der Literatur, die eine Auszeichnung wie den Nobelpreis verdiene.

In Südafrika wird Coetzees Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis auch als Inspiration für junge Schriftsteller im Land und auf dem Kontinent gesehen. Schwarze Schriftsteller hätten unter den Konditionen der wirtschaftlichen und politischen Unterdrückung sicherlich gelitten, sagt Gordimer-Biograf Ronald Suresh Roberts. „Das Schreiben von international preiswürdiger Literatur ist oft eine Angelegenheit der Mittelklasse, finanziell abgesichert mit stabilen Lebensumständen und Zugang zu Quellen aller Art.“

Die Herausforderung für die vielen Talente unter den schwarzen Autoren bestehe darin, sich mehr auf den „kulturellen Unternehmungsgeist“ zu konzentrieren. Es sei ein natürliches Phänomen der Postapartheidphase, dass heutige Autoren sich zu viel mit Filmdrehbüchern und Zeitungskolumnen beschäftigen, weil sie vor allem auf finanziellen Erfolg aus sind. Aber Roberts ist zuversichtlich: „Die nächste Generation wird das anders denken.“

        MARTINA SCHWIKOWSKI