berliner szenen Ein Tag im Zoo

Raubtierpazifismus

Raubtierkapitalismus – das ist zuletzt wieder zum geflügelten Wort für die Gier einzelner Unternehmen geworden. Aber haben wilde Tiere diesen Vergleich überhaupt verdient? Zur direkten Anschauung auf in den Zoo: Hier können gefährliche Krokodile aus sicherer Warte studiert werden, und das Zoo-Aquarium ist ohnehin ein angenehmer Ort.

Der richtige Moment ist die Fütterung, nur montags um 15.30 Uhr. Beim Fressen muss das Raubtier seine wahre Natur zeigen, den ungeschminkten Kampf ums Dasein wagen: Nilkrokodil gegen Kaiman gegen Orinoko-Kroko. Unersättlich, aggressiv, gierig.

Noch liegen die vier Reptilien reglos auf den Felsen oder im Wasser. Das muss die Ruhe vor dem Sturm sein, das stoische Wesen der Panzertiere. Von Nervosität jedenfalls keine Spur. Zumindest bei den Tieren. Als sich doch ein Reptil rührt, macht ein anderes eine abrupte Bewegung. Kreischen auf der Zuschauerbrücke. Ein Kind fragt ängstlich: „Kann das Krokodil hoch springen?“ „Nein“, beruhigt die Mutter, „es hat zu kurze Beine.“ Schon kommen die Pfleger mit einem Eimer Fleisch für die Echsen. Das wilde Reißen kann beginnen. Zu kurze Beine? Das dreieinhalb Meter lange Nil-Vieh dort hinten setzt schon zum Sprung an! Doch nein, das Reptil wendet sich gelangweilt ab. Auch die anderen rühren sich kaum. Eines macht immerhin einen Schritt in Richtung Mahlzeit, dann sinkt es wieder zu Boden. Schließlich bequemt sich ein anderes zu fressen, weitere folgen. Aber Gier? Blutiger Konkurrenzkampf? Fehlanzeige! Und solchen Schäfchen im Krokopelz verdankt unser Wirtschaftssystem seinen Namen? Diese Echsen sind einfach satt. Raubtierkapitalismus? Nur das Kapital ist unersättlich. JÜRGEN SCHULZ