: Symphonie vor Sonnenuntergang
Der Schweizer Roger Federer spielt im Finale der US-Open mal wieder unwiderstehliches Tennis, lässt seinem Gegner Lleyton Hewitt nicht die Spur einer Chance und genießt die historischen Dimensionen seiner vielen Triumphe
NEW YORK taz ■ Der kleine Japaner in der vorletzten Reihe erhob seine Stimme und stellte eine Frage, die Roger Federer zuerst nicht verstand. Beim zweiten Versuch kürzte der Japaner ab, reduzierte die Geschichte auf das Wesentliche und wollte nur noch wissen: „Haben Sie das Gefühl, beim Tennis ein Superstar zu sein?“ Die Antwort kam schnell und ohne falsche Bescheidenheit. „Na ja, beim Tennis fühle ich mich schon so. Aber da Tennis international ist, können Sie mich meinetwegen auch als weltweiten Superstar bezeichnen; das ist schon in Ordnung.“ Er grinste, das Auditorium lachte, der Japaner nickte und war es zufrieden.
Dabei war es wirklich eine nahe liegende Frage nach einem Auftritt im letzten Spiel der US-Open, bei dem 20.000 Zuschauer und ein ratloser Gegner dachten: Gibt es denn nichts, was dieser Kerl nicht kann? Und was ist das für ein Ergebnis im Finale: 6:0, 7:6, 6:0? Vor hundertzwanzig Jahren, in den Anfängen dieses Turniers, hat es mal einen Amerikaner namens Richard D. Sears gegeben, der zwei Sätze zu null im Endspiel gewann, aber im Gegensatz zu Federer hatte Sears die Freundlichkeit, dabei wenigstens auch einen Satz zu verlieren.
Der arme Lleyton Hewitt brauchte nach einem ersten Durchgang, der 18 Minuten dauerte und in dem er nicht mehr als fünf Punkte gewann, ein stabiles Nervenkostüm, um nicht gleich zum Netz zu gehen und zu sagen: Komm, wir lassen das heute besser sein. Dass er aus dieser Lage noch einen Tiebreak erzwang, war sein einziger Lohn. Und das ihm, der zuvor 16 Spiele in Folge gewonnen und auf dem Weg ins Finale nicht einen einzigen Satz abgegeben hatte. Was Federer an diesem Nachmittag spielte, klang wie eine große Symphonie; Thema im ersten Satz kunstvoll vorgestellt, im zweiten forte variiert, im dritten zu einem unwiderstehlichen Ende geführt. Maestro, Magier, Superstar – was noch?
– Der Titel bei den US-Open war Federers vierter seit Wimbledon 2003 und der dritte Grand-Slam-Titel in diesem Jahr. Der Letzte, der in der Zeit des Profitennis drei der vier in einem Jahr gewonnen hat, war Mats Wilander anno 1988.
– Bei den vier Erfolgen seit Wimbledon 2003 hat er in insgesamt acht Halbfinals und Finals einen einzigen Satz (!) abgegeben.
– Von elf Endspielen seit Sommer 2003 hat er elf gewonnen.
– Als Erster nach Pete Sampras 1995 hat er nacheinander die Titel in Wimbledon und New York gewonnen.
Was Pete Sampras nicht geschafft hat, auch Andre Agassi nicht, nicht Becker oder Edberg oder sonst irgendwer in mehr als einem Jahrzehnt – das steht nun auf seiner in Gold gerahmten Liste. Eben wegen dieser historischen Dimension ist er mit einer deutlich spürbaren Unruhe in dieses Spiel gegangen; natürlich hat er daran gedacht, dass es schief gehen könnte. Aber als es vorbei war, lag er der Länge nach auf dem Rücken im Arthur-Ashe-Stadion, blinzelte ins Flutlicht und in den malerischen Sommerhimmel kurz vor dem Sonnenuntergang und hatte nur einen Gedanken: „Das ist doch nicht zu fassen.“
Denn es ist nicht nur dieser dritte Titel an sich, der ihn wunschlos glücklich macht, sondern die Tatsache, ihn ausgerechnet in dieser Stadt, bei diesem Turnier gewonnen zu haben. „Nicht mal in meinen kühnsten Träumen hätte ich jemals gedacht, dass ich die US-Open gewinnen werde“, sagt er. Es ist ein weiter Weg aus der ordentlichen, beschaulichen Schweiz mitten rein in den Trubel der tosenden, schillernden Stadt, und bis er sich an all das gewöhnt hatte, dauerte es seine Zeit. Diesmal ist er schon eine Woche vor Turnierbeginn gekommen, um sich auf den Lärm, auf die Luft, auf die Leute, auf das Leben und die Lichter einzustellen, und es hat funktioniert. Seine Erkenntnis nach den drei Wochen in Metropolis: „Wenn du mit New York klarkommst, dann kommst du mit allem klar.“
Roger Federer ist einzigartig, wenn er fliegt und siegt. Aber kaum weniger eindrucksvoll ist seine Art, die Wirklichkeit und ihre Relationen im Auge zu behalten. Ob er im nächsten Jahr alle vier großen Titel und damit den Grand Slam gewinnen kann? „Ich bin glücklich, wenn ich nächstes Jahr einen gewinne. Ich bin dankbar für jeden; du weißt nie, wann es dein letzter ist, weil mit einer Verletzung die Karriere schnell zerstört sein kann. Ich bin mir dessen bewusst“.
Tim Henman, der im Halbfinale Ähnliches erlebte wie Hewitt im Finale hat eine Vorstellung, wie ein Spieler aussehen muss, der gegen Roger Federer an magischen Tagen wie diesem bestehen will. „Wenn man Roddicks Aufschlag nimmt und Agassis Return und meine Volleys und Hewitts Schnelligkeit und Zähigkeit, dann hätte man vielleicht eine Chance.“ Vielleicht. DORIS HENKEL