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Archiv-Artikel

Stampfen im Regen

Jubel am Trafalgar Square: Die Pet Shop Boys ließen ihre Vertonung von „Panzerkreuzer Potemkin“ erklingen

So führte eines zum anderen: Philip Dodd, Chef des Londoner Institute of Contemporary Arts, bekam von seinem Bürgermeister Ken Livingston die Aufgabe, auf dem Trafalgar Square ein Open-Air-Event auf die Beine zu stellen. Dodd dachte daran, auf einer großen Leinwand Sergej Eisensteins Revolutionsfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ aus dem Jahr 1925 zu zeigen, weil das so schön zum Trafalgar Square passen würde, bekanntlich das Zuhause politischer Dissidenz in Großbritannien, Schauplatz der Polltax Riots von 1990 und zahlreicher Antikriegsdemos. Und dann dachte Dodd noch, es wäre doch wunderbar, einen neuen Score zu dem Stummfilmklassiker komponieren zu lassen. Nur, von wem? Na ja: „Eisenstein war schwul, und schwul sind auch … die Pet Shop Boys!“

Und so kam es tatsächlich, dass Neil Tennant und Chris Lowe, bekannt als erfolgreichstes Duo in der Geschichte der Popmusik, am Sonntagabend in London ihren gemeinsam mit dem deutschen Komponisten Torsten Rasch ausgefeilten Score zu Eisensteins Film-Meilenstein uraufführten. Unterstützt von den Dresdner Sinfonikern und neugierig beobachtet von an die 10.000 dicht gedrängten Londonern unter ebenso vielen Regenschirmen.

Dass Tennant und Lowe sich für das Projekt begeistern ließen, wunderte kaum, ließen sie in ihren Songs bisher doch hin und wieder eine Faszination für Russlands Geschichte durchscheinen – nicht nur in ihrem ersten Hit „West End Girls“, in dem die Zeile „From Lake Geneva to Finland Station“ auf Lenins Rückkehr aus dem Exil 1917 anspielte.

Eine Kombination aus Orchester-Arrangements und typischen Synthie-Teppichen – soviel durfte man zu der im Jahr 1905 angesiedelten Geschichte eines Matrosenaufstands am Schwarzen Meer erwarten. Und siehe: Mit überraschender Präzision verzahnten sich Bild und Ton. Die Unsicherheit der Seemänner der „Potemkin“ vor dem Aufstand spiegelte sich in verschachtelten Rhythmen und dunkel wabernden Basslinien, der Sturz des tödlich getroffenen Seemanns Vakulincuk ins Schwarze Meer wurde in bester Mickeymousing-Manier von hinabtaumelnden Geigen begleitet, und die berühmte Treppenszene von Odessa gewann durch die stampfenden „Go West“-Beats zusätzlich an Brutalität.

Neil Tennant selbst trat erstaunlich selten in Erscheinung, nur ein paar Verbrüderungs-Slogans wie „One for all, all for one.“ kamen über seine Lippen. Dass der Popdandy erst 50 Jahre alt werden musste, um solche Zeilen anzustimmen – und das zu einem Film, der bis zu seinem Geburtsjahr 1954 in Großbritannien verboten war –, das war am Trafalgar Square die Ironie des Abends. Abgesehen davon, dass die Veranstaltung nur durch ein Joint Venture britischer Steuergelder und dem Sponsoring eines russischen Bierherstellers ermöglicht wurde.

Jedenfalls war es, als Tennant zu „The End“ dann seine letzten Worte anstimmte – for freedom! – eine Welle der Begeisterung, die über den Platz wanderte. Leider bekam nach Ende des Films noch übertriebener Pathos eine Chance, als Tennant und Lowe unaufgefordert den Titelsong wiederholten, ohne Eisenstein, und parallel dazu die umliegenden Gebäude mit dem Slogan „Existence = Resistance“ angestrahlt wurden. JAN KEDVES