Dieses gute Scheinsystem

Es kann immer noch dramatischer werden. In den sozialen Brennpunkten Veddel und Neuwiedenthal verbessert die Kita-Reform nichts. Zu Besuch in zwei Kindertagesstätten, die zu den Verlierern zählen

„Es ist politisch gewollt, dass unsere Kinder hier künftig weniger Sonne abbekommen.“

von KAIJA KUTTER

Ein Fernsehteam war vorige Woche schon da. Hat aber nichts gesendet. „Offensichtlich waren wir für die nicht dramatisch genug. Aber dramatischer kann es doch gar nicht werden?“, wundert sich Kristina Krüger, Leiterin der evangelischen Kindertagesstätte auf der Veddel.

Es ist 9 Uhr früh. Die Eltern bringen ihre Kinder, viele schauen bei Krüger vorbei. Eine Mutter kommt noch mal wieder, bringt eine reich verzierte Torte, weil ihr Kind Geburtstag hat. Ein Vater hat den Gutschein noch nicht eingereicht, muss noch mal zum Amt. „Kein Problem, das mache ich gleich.“ Eine andere Mutter spricht kein Deutsch, die Verständigung über die Abholzeit muss mit Händen und Füßen gelingen. Ein Vater bringt seine Tochter, die beim Abschied weint. „Gehen sie ruhig, sie ist nachher immer ganz fröhlich“, versichert Kristina Krüger. Der junge Vater zögert.

Menschen, die nicht arbeiten, sollten sich selbst um ihre Kinder kümmern, um die Stadt zu entlasten, hat Bildungssenator Rudolf Lange (FDP) verkündet. „Die Eltern hier nehmen sehr wohl ihre Erziehungsverantwortung wahr“, erklärt Krüger. „Sie sehen nur, sie selbst können ihr Kind nicht so fördern, wie sie es gerne möchten.“

Auf der Veddel, die wie eine Insel von Straßen und Industriegelände umzingelt ist, leben zu 86 Prozent Kinder anderer Herkunftssprache. In vielen Familien wird gar kein Deutsch gesprochen. In diese Sprache „hineinwachsen“, wie Krüger es nennt, können sie nur mit ausreichend Zeit. Krüger: „Ein Kind, das mit drei Jahren zu uns kommt und acht Stunden hier ist, spricht in der Regel Deutsch, wenn es zur Schule kommt.“

Doch seit dem 1. August 2003 ist alles anders. Für aus der Kita herausgewachsenen Schulanfänger rückten nur Dreijährige mit der minimalen Vierstunden-Bewilligung nach. Derzeit noch, so Krüger, gibt es drei Ganztags- und eine Halbtagsgruppe. Im Sommer 2004, wenn alle Übergangsfristen ausgelaufen sind, rechnet sie mit einer Umkehrung dieses Verhältnisses in eins zu drei. Dies ist unangenehm für die acht Erzieherinnen, das Reinigungspersonal und die Köchin. Sie müssen mit Stundenreduzierungen rechnen und in einigen Fällen sogar befürchten, dass der bis Jahresende befristete Arbeitsplatz verloren geht. Richtig hart ist es für die Kinder.

Fatima* ist drei Jahre alt und sprachlich weit zurück. Egal ob Mädchen, Ball oder Luftballon, sie spricht von „Baba“. In dieser Kita, die auch Integrationskindergarten ist, wird ihr gezielte sprachliche Förderung zu Teil. Aber vier Stunden täglich sind zu wenig für dieses Kind, ist ihre Erzieherin Petra Meier überzeugt. Auch für Alan*, der still Schiffe auf einem Brettspiel hin und her schiebt. Im alten Kita-System habe man oftmals Kinder zur Sprachförderung von vier auf acht Stunden hochgestuft. „Dann macht ein Kind enorme Fortschritte.“

„Wenn die Kinder länger hier sind, öffnen sie sich ganz anders. Die Förderung ist gerade bei Kindern eine Frage der Quantität“, sagt Krüger. „Die brauchen Zeit, um die deutsche Sprache zu gebrauchen.“ Was sie nicht versteht: Eben mit diesem Argument hatte der Senator erst vor einem knappen Jahr die gegenüberliegende Schule Slomanstieg zur Ganztagsschule erklärt. Doch Sprache lernen Kinder in den ersten sieben Lebensjahren.

Die Kita ist in einem einstöckigen langgezogenen Bau aus den 30er Jahren, zu dem auch die evangelische Kirche gehört. Die Kinder wachsen mit ihr auf. Um 10 Uhr und um 11.30 Uhr gibt Gemeinde-Pastor Steffen Kühnelt Kita-Gottesdienst. Die Kinder genießen das Ritual. Die Eltern muslimischen Glaubens hätten nichts gegen diesen Gottesdienst, berichtet Krüger. Streng muslimische Familien fänden das sogar gut. „Ist doch alles Gotteshaus“, habe ein Vater erklärt.

Während die einen in der Kirche sind, haben die anderen Sprachförderung bei Student Martin, der mit ihnen Zoo spielt: „Ich bin ein Tiger!“, „Ich bin ein Löwe“, rufen zwei Jungs. „Ich bin ein Fisch, der schwimmt im Wasser“, ruft ein 5-jähriges Mädchen, aufgeregt, weil das Spiel toll ist und weil sie sagen kann, was sie gerade denkt.

22 Kilometer weiter, im südwestlichsten Zipfel der Stadt, liegt die Hochhaussiedlung Stubbenhof in Neuwiedenthal. Eine Gruppe von fünf Mädchen steht mit einer vakuumverpackten Großpackung gesalzener Sonnenblumenkerne an der Straße. „Können Sie uns das aufmachen?“ Ein Pieks mit dem Autoschlüssel hilft. „Guten Appetit.“ „Danke.“

Es ist Mittagszeit. Zwischen den dicht gebauten grauen und braunen Wohnblocks leuchtet ein gelbes, flaches Gebäude mit rotem Spitzdach. „Stubs“ steht groß über der Tür dieser Kita des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Wenn sie hier die Kinder künftig schon nach vier Stunden wegschicken, bekommen sie keine warme Mahlzeit, hatte DRK-Geschäftsführer Hartmut Krüger kürzlich gewarnt. Kita-Leiterin Anke Maack formuliert es so: „Es ist politisch gewollt, dass unsere Kinder hier künftig weniger Sonne abbekommen.“

Ein halbes Dutzend Kinder tobt mit Schaumstoffkissen im Eingangsbereich, ansonsten ist es ruhig im Haus um die Mittagszeit. Rote Vorhänge, apricotfarbene Wände, Lichterketten, die Räume sind gemütlich eingerichtet. Im Schulkindhort ist richtig Trubel. Es sind Ferien, es regnet, die Gruppe war gerade in der Bücherhalle. Die Kinder haben mitgebracht, was sie interessierte. Ein Hexenbuch, Comics, das Guinness-Buch der Rekorde.

In einem Jahr, wenn alle Übergangsregelungen für das Kita-Gutscheinsystem auslaufen, wird dieses Haus im sozialen Brennpunkt Neuwiedenthal ab 13 Uhr leer sein. 135 Kinder, bis zum Sommer ausschließlich ganztags betreut, gibt es hier. Doch seit August ist das anders.

Neue Kinder bekommen rigoros nur vier Stunden bewilligt, wenn ihre Eltern nicht arbeiten. Und für die Kleinkind-Krippe mit bisher 26 Plätzen gab es eine einzige Neuaufnahme. Das dritte Kind einer Familie, das ohnehin beim Jugendamt bekannt ist, bekam „Priorität 1“ und wurde als „dringender sozialer Bedarf“ eingestuft. „Der nächste Schritt wäre die Pflegefamilie. Wir kennen die Familie gut“, berichtet Anke Maack. Doch die Messlatte für diese „Prio 1“ sei sehr hoch. Dass Kinder weder Mittagsessen noch Hausaufgabenhilfe bekommen und sich selbst überlassen sind, reiche für „Priorität 1“ nicht aus. „Uns wurde gesagt, es lohnt sich gar nicht erst, dies zu versuchen.“

So wird der Schulkinderhort mit seinen 40 Plätzen vermutlich in nächsten Sommer aufgelöst. Ein Ort, an dem die Kinder neben frischem Obst und Gemüse auch Nachhilfe und Anregungen für die Freizeit bekamen. Sei es, dass gemeinsam Fahhräder repariert oder ein Ausflug ins nahegelegene Moorgebiet unternommen werde, das die Kinder sonst kaum wahrnehmen.

Und, ist es nicht richtig, den Eltern die Sorge für ihre Kinder zuzumuten, wie der Bildungssenator meint. „Klar müssten die Eltern das auf die Reihe kriegen. Aber sie lernen es nicht, in dem man die Kinder bestraft“, sagt dazu Anke Maack. „Sie sind es, die nichts zu Essen bekommen und den größten Teil des Tages sich selbst überlassen sind.“ Es sei Teil der täglichen Arbeit im Stubs, in Elterngesprächen unterstützend und beratend tätig zu sein. Dies geschehe im vertraulichen Gespräch beim Kinderabholen am Sandkistenrand. Doch manche Eltern seien einfach nicht zu erreichen. Da rangiere das Kind hinter anderen Problemen wie Geld, Trennung, Scheidung, Drogen und Arbeitslosigkeit irgendwo auf „Platz 23“, sagt Maack. „Allein schon, dass wir für diese Kinder da sind, wenn bei ihnen zu Hause die Hölle tobt, ist doch wichtig.“

Und wenn sie zu Hause kaum Anregungen erhalten. Die Kita ist ihr Bildungsort. Manchmal ist Spielzeugtag, da dürfen die Kinder ein Kuscheltier oder etwas anderes mitbringen. Viele Kinder haben dann nichts dabei. „Oder man merkt, es ist hastig etwas angeschafft worden.“

Zwei Uhr mittags, draußen ist es nass und kalt. Der 10-jährige Mirko* schlendert über den Nachbarhof. Wir unterhalten uns ein bisschen. Was er so macht in den Ferien („so spielen“), ob er das Moor kennt („mmh nö“). Was es zum Mittag gab? „Wir essen noch, später.“ Und was? Mirko überlegt kurz. „Fleisch. Und Kartoffelbrei.“

*Namen geändert