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Archiv-Artikel

Entdecke die Schmusekatze

Für „Zwei Brüder“ haben Kameraleute und Tiertrainer Großtaten vollbracht. Dagegen fallen die Leistungen der menschlichen Darsteller ab

Einfach herzallerliebst, wie sich die beiden Tigerbabys Kumal und Sangha durch die malerisch verwitterten Tempelanlagen des kambodschanischen Dschungels trollen. Doch plötzlich tauchen kunsträubernde Jäger auf, erschießen den Tigervater und schlagen die Mutter in die Flucht. Die eben noch intakte Kleinfamilieneinheit wird also rücksichtslos zerstört, die beiden Tigerbabys brutal voneinander getrennt. Immerhin kümmert sich der international bekannte Abenteurer Aidan McRory (Guy Pearce) um den kleinen Kumal, doch dank dem Ränkespiel einheimischer Intriganten landet Kumal schließlich in einem Zirkus, in dem man von Tierrechten noch nichts weiß. Sangha soll es zunächst zwar besser ergehen, wird er doch von dem treuen Gouverneurssohn Raoul (Freddie Highmore) gehegt und gepflegt. Doch als Sangha den recht extrovertierten Haushund im Vorübergehen zerfetzt, übergibt man ihn seiner Exzellenz, dem Prinzen (Oanh Nguyen), der ihn in seinen unterirdischen Privatzoo sperrt.

Nachdem sich der vielseitig interessierte Regisseur Jean-Jacques Annaud bereits in den Spielarten Neandertalerfilm („Am Anfang war das Feuer“), Mittelalterfilm („Der Name der Rose“), Erotikfilm („Der Liebhaber“), Bergsteigerfilm („Sieben Jahre Tibet“) und Kriegsfilm („Enemy At The Gates“) erprobt hat, ist er mit „Zwei Brüder“ wieder beim Tierfilm gelandet. Doch anders als bei „Der Bär“ wollte er dieses Mal der tierischen Handlung offenbar nicht hundertprozentig vertrauen, weshalb die Erzählung mit allerhand Menschlichem angereichert wurde, was sich jedoch nicht allein auf die Vermenschlichung der Tiere beschränkt.

Einmal geht es um die Liebe des Abenteurers McRory zur schönen Dolmetscherin. Dann gibt es noch etliche Vater-Sohn-Konflikte, welche die verschiedenen Handlungsstränge auf die eine oder andere Weise prägen. Und schließlich geht es auch noch um die widerstrebenden Interessen von Umweltschutz und Tourismus – ein recht moderner Streitpunkt, der offenbar auch schon um 1900 akut war. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass es Annaud gelang, seine menschlichen Darsteller unnachahmlich hölzern in Szene zu setzen, während die insgesamt 30 Tiger, die Kumal und Sangha in ihren unterschiedlichen Lebensphasen spielen, völlig glaubwürdig agieren.

Man muss sich nicht nur fragen, was dieser Umstand beispielsweise über die schauspielerischen Leistungen von Guy Pearce aussagt, sondern welche Großtaten die Tiertrainer und die Kameraleute vollbracht haben müssen, die den schnurrenden Vierbeinern mit DV-Kameras auf den Pelz rückten. Viele, wirklich staunenswert reizende Bilder kamen dabei zustande, welche die Botschaft des Films in unvergleichlicher Weise unterstreichen. Auch in einem ausgewachsenen Tiger wird im Herzen immer eine putzige Schmusekatze stecken, sofern man dem Tier seine Freiheit lässt und der Mensch es nicht mit seinem schrecklichen Handeln korrumpiert.

Dass Annaud dazu Tiger brauchte, die den Beruf des Darstellers wahrscheinlich nicht freiwillig gewählt haben, könnte zwar als grober Widerspruch gewertet werden, doch wer wollte angesichts dieser recht märchenhaften Geschichte solch strenge Maßstäbe anlegen. Vielmehr ist dem Regisseur ein schöner Erwachsenenfilm für Kinder und ein schöner Kinderfilm für Erwachsene gelungen, der übrigens trotz bester Kritiken in den USA beim Publikum durchfiel, weil die Zuschauer es zutiefst missbilligten, dass Kumal und Sangha die Frechheit besitzen, weder zu singen noch zu sprechen. Schlimm, was sich Tiger heutzutage herausnehmen.

HARALD PETERS