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Archiv-Artikel

Revolution im Hinterzimmer

Den Bundestag wollen sie weghauen, sind aber nur zu acht: Die Hartz-Proteste lassen sozialistische Herzen höher schlagen

Als verrückt geltenjedenfalls die Spartakisten– wegen ihrer Nordkorea-Obsession

Von Benno Schirrmeister

Also doch! Also hat sich wirklich eine Tür aufgetan, ganz hinten, am Ende des Hinterraums der Kneipe. „Nein“, hat die Frau am Thresen gesagt und gelacht. „Du hast keine Hallus.“

Tatsächlich ist da ein großer Holzrahmen, aber den verdecken die groben Bretter, auf denen sich etagenweise Gesellschaftsspiele türmen – Monopoly, Backgammon, Café international. Und genau durch diese Tür, unterm Regal durch hat sich wirklich gerade ein Schlaks gebückt, ist an die Bar gekommen, hat Geld hingelegt, „stimmt’s?“, und ist gegangen.

Da treffen sich also Leute? „Ja“, sagt die Bedienung, putzt ein Glas, sehr sorgfältig. „Da treffen sich Leute.“ Stellt das polierte Glas weg, unter die Reihe dekorativer Apothekerflaschen, braun, beschriftet, Sambucus, Artemisia, Euphrasium, wasweißich. Was’n für Leute? Es findet sich noch ein Glas, das zu polieren lohnt. Wie kommt man denn da hin? „Also“, sagt sie, „da ist noch ein Raum. Da kann man sich anmelden und Billard spielen.“ Schmollmund. „Und da können sich so Vereine treffen.“

Es ist kühl draußen. Vorne über die größere Straße fahren noch vereinzelt Autos, aber hier – kein Mensch. Das Kneipenlicht spiegelt sich auf dem Boden, Asphalt, der in breites Kopfsteinpflaster übergeht: Außen rote Lämpchen, ein Stern, der etwas unzeitgemäß weihnachtlich wirkt. Dazu gelbes Licht von drinnen. Und weißes: Unter den Energiesparleuchten im Hinterstübchen, um eine breite Tafel, sitzen acht Gestalten. Eine hat ein Laptop. Von Zeit zu Zeit hackt sie etwas in die Tasten. Die Blicke wandern: Jemand bewegt den Mund, dann wird auf den nächsten geschaut. Das ist kein Gesellschaftsspiel. Hier wird debattiert. Ernsthaft.

„Wir haben doch eine Rednerliste!“ Schriftführerin Verena unterbricht Sebastian, der eigentlich die Sitzung leiten sollte, aber eben doch auch gerne mal dazwischen redet. „Du warst noch nicht fertig, Teja!“ Der blasse Junge mit dem breiten Gesicht schaut eine Weile stumm in seine Kladde, die aufgeschlagen vor ihm liegt. „In der Zeitung“, sagt er dann, und korrigiert sich: „also die bürgerliche Presse schreibt, dass sie nach Hartz IV mit Plünderungen rechnen.“ Er blickt in die Runde. Niemand sagt etwas und es riecht ein wenig nach Kreide. Teja korrigiert, mit seiner etwas belegten Stimme, die Betonung: „die rechnen mit Plünnnderungen“, legt den Oberkörper auf die Tischplatte und beginnt unvermittelt zu lachen. Verstummt plötzlich, schaut konzentriert in seine Notizen und liest ab: „Die Senkung des Spitzensteuersatzes, haben welche ausgerechnet, kostet genauso viel wie Hartz IV den Arbeitslosen wegnimmt – 2,5 Milliarden Euro.“ Er blickt auf „haargenauso viel“. Er lacht. Dann klappt er die Mappe zu. Teja hat gesprochen.

Zwei dunkelblaue Wachstuchdecken liegen auf den Pressspanplatten; sie verdecken den grünen Filz, aber unten ist das Fach für die Billardkugeln doch zu sehen. Auf dem Behelfs-Tisch liegen diverse Broschüren, das Partei- und das Frauen-Programm – ziemlich der gesamte Info-Stand der SAV, inklusive Button-Auswahl. Es werden Arbeitsaufträge verteilt, wann wer Flugis zu verteilen habe, und Anna motiviert die anderen, kommendes Wochenende nach Köln zu reisen. Die dortige Gruppe „steckt mitten im Wahlkampf“. Wahnsinnig engagiert muss sie sein: Einen Termin nach dem anderen trägt sie in ihren Kalender, lässt sich auch noch ein Referat aufhalsen, nein die Commune macht Verena, aber der Widerstand der Arbeiterklasse vor 1933 ist noch frei, rätselhaft wie sie das alles schafft, neben der Schule. Währenddessen erzählt sie, Glück in der Stimme, dass „dieses Jahr die Leute immer sofort die Zeitung haben wollen“. Viel besser als im vergangenen Jahr. „Die sagen, Sozialismus – finde ich gut“, wobei der rötlich-blonde Pferdeschwanz ausgelassen wippt.

SAV ist die Abkürzung für „Sozialistische Alternative“, und Sebastian wird sie später als internationale Vereinigung vorstellen. Als „Kleinstpartei“ wird die SAV hingegen in den einschlägigen Bremer Internet-Foren gehänselt. Die Leute des PDS-nahen Jugendverbandes „solid‘“ haben Vorbehalte. Und in einem online-Beitrag zu den Montagsdemos fällt sogar die böse Bezeichnung „verhinderte Stalinisten“. „Die SAV verhält sich sehr loyal“, sagt hingegen Jürgen Willner. Willner,Vertreter der solidarischen Hilfe im Bremer Bündnis gegen Sozialkahlschlag, fungiert als dessen Ansprechpartner für die Presse, „aber schreiben Sie nicht Sprecher, das wäre verkehrt“. Das Bündnis organisiert in Bremen die Montagsdemos. Zu den Nach- und Vorbereitungstreffen kommen rund 25 Leute. Man sei „eine Plattform für Protest“, so Willner. Das bündelt die Interessen: Von der Wahlalternative WASG seien welche dabei und von Attac, von der PDS, von der Marxistisch-Leninistischen Partei auch, manche aus dem Antifa-Bereich, dann noch von solid‘, und eben auch die von der SAV. „Die wirken zur Zeit“, berichtet er weiter, „recht integriert“.

Einmal wöchentlich treffen die sich in einer Eckkneipe in Walle. Walle ist ein leicht sklerotischer Stadtteil, lauter kleine Häuschen, zwei große Ausfallstraßen, ein Einkaufszentrum. Früher, als es noch einen echten Hafen gab, wohnten hier die Schauerleute. Ein Arbeiterbezirk mit kommunistischen Traditionen. Aber das habe bei der Ortswahl keine Rolle gespielt, heißt’s.

Ein déjà vu: Diesmal hat Sebastian Anna unterbrochen, obwohl er seinen Diskussionsbeitrag kurz zuvor erst beendet hatte: „Die Leute in der DDR hatten keine Demokratie, aber das war ihnen egal“, so hatte er angefangen, sich dann aber unterbrochen, weil er gemerkt hat: Da stimmt was nicht. „Das war ihnen natürlich nicht egal, weil, Sozialismus ohne Demokratie, wissen wir, funktioniert nicht.“

Sebastian gestikuliert ein bisschen langarmig durch die Gegend, wenn er redet. Er ist 22 Jahre alt, im bürgerlichen Leben hat er einen Job in einem Design-Büro, später kommt die ganze Truppe noch zum geselligen Teil in seine Wohnung, gar nicht weit weg, in einem Eckhaus – eine sozialistische Monade, tapeziert mit Bolschewikiplakaten und Demo-Aufrufen. Hier lässt sich entspannt über Revolutionsgeschichte plaudern und über die eigenen Träume. „Wenn der Soldat auf mich zielt“, kündigt Anna an, die über die Friedensdemos zur SAV gekommen ist, „schieß’ ich den ab“. Nicht ohne anhand von Beispielen nachzuweisen, „dass der Kapitalismus auch blutig ist“. Ein Gesprächsthema ist Lafontaine, in dem „ein zweischneidiges Schwert“ erkannt wird, ein anderes das eigene Verhältnis zur WASG. Man unterhält sich über die Spartakisten, die wirklich verrückt seien, nämlich: in jeder Diskussionsrunde kommen die immer auf Nordkorea. Und immer würden sie sich rühmen, damals, ’89, die DDR verteidigt zu haben. Irre.

Als die DDR aufhörte, zu existieren, ging Sebastian bereits ein Jahr zur Schule. Jetzt hält er spaßhaft die Hand vor den Mund, wegen des Rüffels – er hat schon wieder dazwischen geredet. Aber Anna hätte keines Beistands bedurft. Unbeirrt doziert das Mädchen weiter, obwohl die Kellnerin die bestellten Getränke bringt und das Hefeweizen zu einem scharfen Einwurf Verenas führt, dass es bei den Treffen keinen Alkohol gebe. Klar, das trübt den Blick für die Wirklichkeit.

„Wir leben“, stellt Anna also fest, und legt dabei energisch beide Handkanten auf den Tisch, „in einer Klassengesellschaft, und durch Wahlen kannst du nichts verändern“. Dabei röten sich ihre Wangen leicht, was hübsch aussieht. Dann belehrt sie Roberto, der eine Verfassungsklage angeregt hatte, dass auch Richter Mitglieder ihrer Klasse seien. Und überhaupt: „Warum soll ich denn den Umweg über die Gerichte gehen“, sagt sie, „wenn ich den Bundestag weghauen kann.“

Manchmal ist die psychische Realität stärker als die faktische. Die SAV hat bundesweit etwa 400 Mitglieder. Es gibt eine Gruppe in Hamburg, eine in Bremerhaven, eine in Rostock und einen Kontaktmann für den Landkreis Cuxhaven. Man fühlt sich im Aufwind. Wegen Hartz IV. Wäre das die viel beschworene Radikalisierung? Ernst zu nehmende Politiker haben schon vor ihr gewarnt, Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck etwa, und etliche andere SPD-Granden, Thierse und Schröder und Müntefering. „Das scheint mir ein interessiertes Argument, um Leute von den Kundgebungen abzuhalten“, befindet Dieter Rucht, der am Wissenschaftszentrum Berlin lehrt – Spezialgebiet Protestforschung. Derzeit führt er mit seinem Team während der Montagsdemos in vier Städten Befragungen durch. Er urteilt nur ungern: Es gebe, sagt er „zu viele aufgeregte Kommentatoren“. Auch sei es schwer, zu prognostizieren, wie lange die Protestwelle anhält. „Ich glaube aber“, so Rucht, „mindestens bis 2. Oktober.“ Dann findet die zentrale Großkundgebung in Berlin statt. „Ein entscheidendes Datum“, so Rucht. „Entweder erhält der Protest dann einen Push. Oder die Demonstration ist nur schwach besucht – dann wird die Bewegung abbröckeln.“ Auch dann scheint für ihn ein Radikalen-Problem nicht akut: In der Frage empfiehlt Rucht eine entspannte Sichtweise: „Auch undemokratische Meinungen auszuhalten gehört zu einer demokratischen Gesellschaft.“ Egal ob von links oder von rechts. „Aber“, sagt er, „ das ist meine persönliche Grundphilosophie“. „In Bremen sind wir acht Aktive“, klärt Sebastian über den Stand der SAV-Mobilisierung auf. „Aber wir haben gesunden Zuwachs.“

Tatsächlich: Roberto, grauer Bart und lange graue Haare, ist heute zum ersten Mal dabei. Ein junggebliebener Mittfünfziger. Und, wie ist er auf die SAV gekommen? Beim Gang übers Pflaster nutzt er eine Krücke, tack, tack. Genau genommen, raunt er vertraulich, befinde er sich auf der Suche nach Verbündeten: „Gegen die Freimaurer“. Deren Weltherrschaft ist für ihn eine erwiesene Sache. Und gegen die Justiz: „Ich kann acht Bremer Richtern glasklar Rechtsbeugung nachweisen. Morgen stelle ich Strafantrag.“ Roberto wird nicht wiederkommen.