: Liaison mit einem Verrückten
Anita Kugler hat mit ihrem Buch „Scherwitz. Der jüdische SS-Offizier“ eine beeindruckende „Hommage an die lettischen Juden“ verfasst. Ein Gespräch mit der Autorin über Aktenfunde, Depressionen und das Leben nach dem Buch
INTERVIEW JAN FEDDERSEN
Anita Kugler, „so um die Mitte fünfzig“, wie sie einräumt, in Thüringen als Kind von Deutschbalten geboren, lebt seit 1974 in Berlin. In den Jahren zuvor gründete die Historikerin und Politologin in Göttingen zwei linke Buchläden mit. Von 1989 bis 1999 war sie Mitglied der taz-Redaktion – häufig betraut mit Artikeln zum Nationalsozialismus wie auch mit Berichten über das aktuelle jüdische Leben in Deutschland. Zuletzt war sie verantwortlich für das Ressort „Politisches Buch“. Vor fünf Jahren ließ sie sich freistellen, um sich der Recherche für ihr nun bei Kiepenheuer & Witsch erschienenes Buch „Scherwitz. Der jüdische SS-Offizier“ zu widmen. Zwischenzeitlich schrieb sie unter dem Namen Anita Lenz den Roman „Wer liebt, hat Recht“.
taz.mag: Anita, du hast sechs Jahre für dein Buch recherchiert und es verfasst. Bist du zufrieden?
Anita Kugler: Ja, sehr. Nie werde ich ein besseres Buch schreiben können. Es hat meinen Mann und mich fast verarmt, achtzigtausend Euro hat es gekostet, die Reisen, die Übersetzungen … Die im Osten dachten, na, da kommt eine aus dem Westen, da nehmen wir doch gleich mal einen Euro für eine Kopie. Die Spesen. Und dann all die Jahre, als ich dachte, mein Kopf ist zu klein, um alles zu begreifen, um es zu fassen.
Was wolltest du fassen?
Das Leben eines genialischen Hochstaplers namens Eleke Scherwitz, der 1950 als jüdischer SS-Offizier wegen Mordes verurteilt worden ist. Zeitzeugen sagen, er hat hunderten von lettischen Juden das Leben gerettet. Gegen den sei Schindler sein Waisenknabe.
Wie bist du auf sein Schicksal gestoßen? Hatten deine Eltern, die als Deutschbalten in Riga lebten, dir von Scherwitz berichtet?
Nein, nein, nein. 1995 habe ich eine Geschichte für die taz über die deutsche Justiz in der Nachkriegszeit recherchiert. In einer Dokumentensammlung fand ich das Urteil gegen einen Eleke S., Jude aus Wilna, SS-Unteroffizier, KZ-Kommandant in Riga, verurteilt wegen Totschlag an drei jüdischen Häftlingen. Seine jüdische Herkunft galt als strafverschärfend. Ich fiel fast vom Stuhl.
Spielte für dich eine Rolle, dass die Geschichte sich auch in Riga zutrug?
Klar, meine Eltern haben dort doch gelebt, in unserer Wohnung hingen überall Bilder von Riga. Und ich habe in der taz viele Texte über die Geschichte der baltischen Juden geschrieben. Auch weil das Schicksal der lettischen Juden die Generation meiner Eltern einen Dreck interessiert hat.
Wie ging es weiter?
Ich fand schließlich einen Aufsatz mit dem Titel „Der jüdische SS-Offizier“. Alexander Lewin, sein Autor, hat mir diesen Titel für mein Buch geschenkt – und bei ihm las ich: Er sei Jude, stamme aus Litauen, sei als Baby von den Freikorpssoldaten adoptiert worden und in der Weimarer Zeit Betriebsdirektor bei Siemens gewesen. Ich wusste: Das ist der Wendepunkt, das passiert dir nur einmal im Leben … ein Thema, bei dem du richtig brennst.
Eine Journalistin von Ende vierzig, Redakteurin bei der taz, die eine neue Herausforderung sucht.
Klimakterium? (lacht)
Als Alter, in dem oft neue Horizonte gewünscht werden.
Vielleicht, aber ich dachte, das ist eine Geschichte, bei der ich wusste, dass ich alles mobilisieren kann, was ich bin, was ich kann und was ich will. Ich liebe investigativen Journalismus. Und mich interessiert der Nationalsozialismus.
War das Buch schon das Ziel?
Nein, ein Aufsatz hätte es auch werden können. Wenn ich nichts gefunden hätte, wäre es ein schönes Jahr geworden. Aber kaum hatte ich angefangen, etwas zu finden, stürzte alles auf mich ein.
Was?
Es uferte aus. Das Material … Ich hatte wie ein Fuchs die Fährte aufgenommen. Ich fuhr an Orte, an denen Scherwitz gewesen ist, bin von Tür zu Tür gegangen, habe gefragt, ob ihnen etwas zu diesem Menschen einfällt.
Und die Zeit lief davon …
… ja, denn ich war nach einem Jahr nicht fertig, auch nach zweien nicht – Beurlaubung von der taz war befristet. Ich musste mich entscheiden.
Dazwischen ein Buch über eine kriselnde Ehe …
… der Kladderadatsch, ja, die Geschichte, die ich als Anita Lenz schrieb.
War dieser Liebesroman auch ein Trick, um etwas Abstand von Scherwitz zu gewinnen?
Das würde ich heute so sehen, ja. Aber damals musste ich mir als Anita Lenz etwas vom Herzen schreiben – und zugleich half es mir, Scherwitz, die lettischen Juden und die Nazivergangenheit etwas ruhen zu lassen.
Schließlich musstest du dich entscheiden – taz oder Scherwitz.
Ich hab mich für den Scherwitz entschieden. Und ich habe die Messlatte hoch gelegt. Es wurde zeitweilig sehr quälend, aber ich wollte nicht aufhören.
Was hat dich getrieben?
Meine Liebe zu politisch inkorrekten Geschichten. Die Faszination von einem Mann, von dem ich nicht sagen kann, ob er gut oder schlecht gewesen ist. Er war SS-Mann und dennoch kein Antisemit …
… wie bitte?
… ja, das ist ja eine der Unglaublichkeiten. Er war Hochstapler, der sogar die SS belogen und bestohlen hat, ein eitler, selbstbesoffener Mensch, der den Ehrgeiz hatte, als Lagerkommandant „seine“ Juden zu schützen, indem er sie wie in einem kapitalistischen Betrieb motivierte. Er wusste doch, dass er an die Ostfront kommt, wenn er keinen Erfolg hat – und „seine“ Juden wussten, dass sie Schlimmeres zu erwarten haben, wenn sie nicht perfekte Luxusartikel für die SS herstellen. Es war ein Geben und Nehmen – und beide Seiten haben davon profitiert.
Darf ich zweifeln? Arbeitest du nicht die Schuld ab, die auch deine Eltern auf sich luden, weil sie ihre jüdischen Nachbarn nicht schützten?
Ich steh nicht in ihrer Pflicht, ich bin unabhängig. Ich habe keine Schuld abzuarbeiten. Ich habe nur aufgeschrieben, was geschrieben werden musste.
Ist Riga eine Heimat?
Quatsch, nur eine wunderbare Stadt. Mein Zugang zu ihr jedoch ist nicht der zu alten Ordensrittern, sondern der zu den lettischen Juden. Mich hat immer das Desinteresse an deren Leid empört.
Inzwischen gibt es dort ein „Museum der Juden in Lettland“ …
… was auch mit Geldern von taz-Lesern gegründet werden konnte. Ein Text über das Museumsprojekt war mit einer Spendennummer versehen. Fünftausend Mark waren der Grundstock.
Was empfandest du bei deinen Besuchen in Riga?
Ich fühle mich dort vertraut. Nicht mit den Leuten, die da jetzt leben. Nicht mit den Russen, die kenn ich ja nicht. Nicht mit den Letten, weil ich die leider auch nicht kenne. Aber ich kenne viele Juden aus Lettland. Viele kenne ich gut. Mein Buch ist eine Hommage an sie.
Und Scherwitz, der SS-Offizier?
Er hat getan, was er konnte.
Gab es in Lettland keine Nazikollaborateure?
Doch, klar, aber ich würde nie sagen, dass die Letten antisemitisch waren. Es gab viele Letten, die viele Leben gerettet haben. Der Hafenarbeiter Janis Lipke aus Riga hat allein 56 Juden aus dem Ghetto geholt und versteckt. Mindestens dreißig Leute haben das gewusst und ihm geholfen.
Wie erging es dir, als du über die Exekutionen in Rumbula, bei denen 1941 28.000 Menschen erschossen wurden, schreiben musstest?
Ich hatte das Gefühl, dies zu beschreiben übersteigt meine Fähigkeiten. Ich dachte, warum bist du nicht Buchhändlerin geblieben? Oder Journalistin. Ich hab oft Depressionen bekommen, nicht beim Recherchieren, da war ich immer konzentriert, aber beim Schreiben ging es mir fürchterlich. Fünfzig bis sechzig Zigaretten geraucht. Und es hat mich fast krank gemacht, über das Unbeschreibliche die richtigen Worte zu finden.
In deinem Buch liest sich dieser Teil fast kühl.
Wie man’s nimmt. Ich wollte nicht moralisieren, nicht voyeuristisch wie Daniel Goldhagen sein, bei dem das Blut nur so spritzt. So genau wie möglich wollte ich schreiben. Alle Wahrheit ist konkret, wie Bertolt Brecht gesagt hat. Das tut weh.
Was sagen deine jüdischen Freunde zu dem Buch?
Die werden es jetzt lesen können. Als ich mit ihnen über mein Projekt sprach, auch darüber, eine Sprache zu finden, meinten die, diese Philosemiten, die Juden nur als Opfer sehen, die hätten sie so satt. Und dann haben sie mir Gaunergeschichten erzählt, Liebesgeschichten hinterm Bretterzaun des Arbeitslagers, wie sie um die Weiber gekämpft haben. Dass ich diese Geschichten aus dem echten Leben gehört habe, dass man mir dieses Vertrauen geschenkt hat. Das hat mich stolz und glücklich gemacht.
Man wird dich auf das Kapitel über Rumbula ansprechen.
Vier Monate habe ich an diesem Kapitel geschrieben. Aber ich werde es nicht vorlesen. Das kann ich nicht. Durch diesen Teil muss jeder alleine durch.
Der NS-Forscher und Buchenwald-Häftling Eugen Kogon hat 1947 geschrieben, man könne über das interne Lagerleben nicht berichten. Du hast es aber gemacht. Welche Geschichte ist dir wichtig?
Zum Beispiel die über die Feme. Ein Gerber in Scherwitz’ Lager verliebt sich in die schöne Rachele, aber die hat viele Verehrer – und ein anderer gewinnt ihr Herz. Der Abgewiesene schreibt an die Gestapo einen Brief und sagt, der Liebhaber der schönen Rachele sei Oberanführer des kommunistischen Widerstands. Und das zu einer Zeit, als die SS nach versteckten Waffen im Ghetto suchte.
Ein Denunziant aus Eifersucht?
Ja, und dieser Brief wird abgefangen von der jüdischen Polizei, die bringen ihn Scherwitz. Der gibt diesen Brief seinem so genannten Oberjuden – und beide rufen eine Versammlung ein und fragen, was machen wir mit dem Denunzianten. Er hat das Leben aller gefährdet.
Und was machten sie?
Die Versammlung beschließt, der Gerber verdient den Tod. Und Scherwitz geht aus dem Raum, und jüdische Häftlinge erschlagen den armen Tropf im Badezimmer.
Was siehst du in dieser Geschichte?
Eine tragische Geschichte, ein privates Drama, das aber, weil es 1942 spielt, hochpolitisch ist. Der arme Gerber war einfach nur eifersüchtig; der hatte viele Monate keine Frau berührt, seine eigene Frau war in Rumbula ermordet worden. Er hat nicht viel im Kopf gehabt, sich nur gefragt, wie kann ich den Rivalen treffen …
Wie geht es dir heute?
Prima. Ich war liiert mit diesem Scherwitz, mit diesem Verrückten.
Und wie findet das dein Mann?
Er findet mein Buch grandios. Er war es doch auch, der mich jahrelang ermutigt und kritisiert hat – und zugleich keinen Zweifel daran ließ, dass ich weitermachen muss. Er hat mich über Jahre an Scherwitz ausgeliehen.
Was sagt deine Mutter zum Buch?
Ich hoffe, sie freut sich. Ich habe es ja auch meinen Eltern gewidmet.
Hast du schon eine neue Buchidee?
Ja, ein Ratgeber, möglicher Titel: „Wie werde ich eine gute Großmutter?“
JAN FEDDERSEN, 47, ist taz.mag-Redakteur. Das Interview konnte nicht per Sie geführt werden: Er arbeitete mit Anita Kugler in der taz mehrere Jahre zusammen