: Die Nebelschlussleuchte
Wenn der Kopf kahl wird. Ein erschütternder Bericht eines Mannes mit schütterem Haar
Als ich nach siebenstündiger Wanderung am Strand von Zinnowitz einen voll ausgeprägten Ganzgesichtssonnenbrand in die Hauptstadt davontrug, wusste ich noch nicht, dass der eigentliche Grund des folgenden mitmenschlichen Spotts nicht auf der grindig aufgequollenen Vorderseite, sondern auf der flachen Hinterhauptsregion meiner weichen Bratbirne saß. Ein mitfühlender Bekannter wies mich schließlich auf meine „Nebelschlussleuchte“ hin – den glühend roten Hautfleck am Haaransatz, den ich von wuchernden Haarbüscheln beschattet glaubte. Doch es hatte sich längst ausgebüschelt.
Der Badezimmerrückspiegel zeigte das ganze Ausmaß der Kopf-Katastrophe. Wie konnte das sein? Nichts mehr war, wo einst mein Haar war. Ein mitfühlender Friseur – Countertenor im Nebenberuf –, der sich angesichts meiner Ausfallerscheinung den eigenen Verdienstausfall bereits an meinen 75.000 Resthaaren abzählen konnte (normal sind bei Gesunden 120.000), gab mir dann den entscheidenden Hinweis, mit dem das Leiden beendet werden könnte: „Fahr ins LKI nach Aachen. Da konnten sie bislang noch jedem helfen! Ich war auch da.“ Eine Arie des Glückes erfüllte mich und den Frisiersalon.
Zwei Tage später stand ich vor dem grenznahen Leo-Kahl-Institut, dessen Leiter Arnfried Wenig mich mit einseifender Freundlichkeit begrüßte. Mit einem silbernen Begrüßungskamm hatte er mich, ohne dass ich mich’s recht versah, um ein Haar ärmer gemacht. „Don’t worry“, beruhigte er mich jedoch sogleich, „50 bis 100 verliert man sowieso täglich.“ Was er verschwieg, wusste ich doch längst aus populärwissenschaftlicher Haarliteratur: Beim Normalmenschen wachsen sie nach – bloß nicht bei mir. Warum, das erklärte Herr Wenig mit seiner infantilen Altstimme, während eine Wasserstoffblondine mit atemberaubender Turmfrisur mein sichergestelltes Haar zu einer umfassenden Haaranalyse ins Zentrallabor des Instituts entführte.
„In allen Fällen männlichen Haarverlustes bleibt zuletzt ein Hufeisen über dem Nacken und an den Schläfen“, erklärte mir Wenig mit seiner Knabenstimme: „An dieser Stelle sind die Haarfollikel – das sind die kleinen Hautbeutel, in denen die Haarwurzeln nisten – unempfänglicher für die männlichen Hormone.“ Moment, war das nicht ein Widerspruch: Die Hormone, die meinen Haarwuchs anregten, sollten sich jetzt selbst ein Bein stellen? Er konnte gut lesen, was unter meinem lichten Haupthaar vor sich ging. „Die Androgene beschleunigen im Alter den männlichen Haarzyklus von drei Jahren auf eins oder ein halbes. Die Haarfollikel bilden sich zurück. Kurz gesagt: Die Haare fallen Ihnen schneller aus, als sie nachwachsen können.“ Das hatte gesessen. Doch mein Peiniger witzelte noch nach: „Aber zur Glatze bringen’s nur wenige.“ Er schüttelte, ganz Diva, sein schwarzes, dichtes Lockenhaupt vor glockenhellem Lachen.
Die Turmblondine brachte jetzt einen gelochten Computerausdruck herein. „O, o! Das sieht ja gar nicht gut aus! Da erübrigen sich alle weiteren Therapien, von denen ich ihnen erzählen wollte – Follikeltransplantation zum Beispiel. Da hilft Ihnen nur noch die Horseshoe-Klinik in Jülich. Direkt neben der Kernforschungsanlage. Wenigs Stimme sang durch den Nebel: „Chirurgische Reanimation der Follikel über die Unterbrechung des hormonellen Flusses ist der Trick. Todsicher, sage ich Ihnen“, flötete er. „Oder kennen Sie einen Eunuchen mit Glatze? Und es geht heutzutage ganz unblutig.“ Er strahlte vielsagend …
Sein Lachen ging in Sirenengesang über, zu dem die Operettenmusik aus dem Hintergrund sich nun drohend verstärkte. Vor dem Gebäude war ein weißer Wagen quietschend vorgebremst, aus dem zwei rundliche Pfleger heraussprangen. „Wir arbeiten mit L’Oréal und Schwarzkopf zusammen. Der Eingriff dient auch der Kernforschung …“, war das Letzte, was ich von Wenig vernahm. Dann entsprang ich haarscharf dem Zugriff der kräftigen Herren durchs rasch geöffnete Fenster.
Ich sah das Unausweichliche auf einmal viel gelassener und fand mich schnell mit Sonnencreme und Käppis ab. Missmutig stimmt mein Frisör bei den zum Glück seltener werdenden Terminen seine einsamen Arien an.
TOM WOLF