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Archiv-Artikel

unter ruhrpottbrasilianern Ailton auf meinem Dach

Zugegeben – für Fußball habe ich mich nicht sonderlich interessiert. Ich dichte lieber in Wolken hinein, ganz hoch oben im Grün von Gelsenkirchen in meiner kleinen Dachgeschosswohnung. Bis zu dem Tag als Schalke in mein Leben donnerte wie ein unhaltbarer Elfmeter.

Klar, Schalke muss sparen – 30 Millionen allein für Ailton, die teure Arena, Reha-Zentrum und Mega-Hotel. Deshalb hat Schalke die kleine Dachgeschosswohnung neben meiner für Spieler angemietet. Seitdem lebe ich hautnah mit Stürmern, Torhaltern und Mittelfeldlern. Die Wand, die uns trennt, ist dünn wie eine Membran. Ich weiß mehr über die Jungs, als Jupp Heynckes, Eddy Achterberg und Rudi Assauer zu träumen wagen. Ich kenne ihre Lieben, ihr Leben, ihre Leidenschaften wie kaum ein anderer.

Ich ahnte schon früh, dass Emile Mpenza nie richtig rennen würde; seinen Müll fuhr er mit dröhnendem Porschemotor von der Haustür zum Abfalleimer. Edi Glieder war liebenswürdig und charmant. Nur wollte er gar nicht wissen, wo er spielt: Auf seinem Fenster klebten Alpenpanoramen.

Die neue Bundesligasaison hat mir dann wiederum neue Mitbewohner beschert. Über Nacht waren sie da: Zehn Nachbarn, die laut portugiesisch sprechen und mit Unmengen von Plastiktüten und einer Satellitenantenne im Gepäck anreisten. Ich habe im Internet nachgeschaut, mit wem ich ab jetzt auf dem Spielfeld zittern muss, und inzwischen interessiere auch ich mich für Fußball. Tür an Tür mit mir versammelten sich Marcelo Bordon, Dario Rodriguez, Gustavo Varela. Einen habe ich auf Anhieb erkannt, als er mir ins Dachfenster hineinschaute: Ailton schloss auf dem Dach ein Satellitenkabel an.

Mein ständiger Nachbar heißt Lincoln und kommt aus Sao Bras do Suacui-Minas Gerais mit seiner Familie und vielen Besuchern. Sie schlafen und leben auf einem Spitzboden. Brütendheiß wird es dort wie in Brasilien, die Decke ist nur eineinhalb Meter hoch. Dass hier Menschen wohnen, darf niemand wissen.

Ich habe sie inzwischen lieb gewonnen und fiebere bei jedem Spiel mit meinen brasilianischen Nachbarn. Sie können sich richtig freuen. Wenn Schalke gewinnt, feiern sie aus ihrer kleinen Dachgeschosswohnung hinaus über halb Gelsenkirchen. Bis morgens um fünf. Wenn Schalke verliert, sind sie richtig wütend und telefonieren und schimpfen auf dem Balkon, als müsse es nach Brasilien reichen.

Aber warum hat Rudi Assauer sich bloß so aufgeregt, weil Jörg Böhme einmal in der Disco war? Bei mir ist seit sechs Wochen jede Nacht brasilianische Disco – mit Samba, Caipirinhas und fetter Bohnensuppe nachts um drei. Lincoln hatte Grippe. Ich hab‘s gewusst! Er lag nur in Badehose auf dem kalten Marmorboden im Treppenhaus. Und dann der Durchzug in seinem Auto, wohin er sich immer flüchtet, wenn es ihm in der eigenen Wohnung zu laut wird.

Natürlich habe ich mich beschwert; und dann versuchen die zehn Brasilianer auf 80 qm wirklich mucksmäuschenstill zu sein. Das reicht dann immerhin für ein paar Minuten. Vor fünf Uhr in der Früh bekomme ich kein Auge zu. Immer öfter schlürfe auch ich am Caipirinha. Den DFB-Spielplan habe ich an den Kühlschrank geheftet – danach richtet sich jetzt mein Leben. Bei Auswärtsspielen von Schalke kann ich vieles erledigen – waschen, telefonieren, einfach mal ausschlafen. Bei Heimspielen gehe ich in die Spätvorstellung, dann sind die brasilianischen Nächte in meiner Dachgeschosswohnung nicht so lang.

Heute ist ein trauriger Tag. Meine Jungs sind ausgezogen in das Haus gegenüber – mit Satellitenantenne, Plastiktüten und ganz, ganz viel Besuch. Aber auch hier werden sie Nachbarn finden, die nun jede Nacht Caipirinha trinken. Und wir werden dann gemeinsam hinaustreten unter den Sternenhimmel von Buer, die Gläser heben und uns zunicken: „War das ein heißer Sommer in Buer-silien!“ Ob Rudi Assauer von all dem überhaupt etwas mitbekommen hat? Kennen Manager die Seelen ihrer Spieler? An der Haustür übrigens steht immer noch der Name Edi Glieder. INGE LYSS