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Archiv-Artikel

„Grotesk soll es sein“

Bis Sonntag findet im Wedding das Festival „Der helle Wahnsinn“ statt. Kunst behinderter Menschen wird gezeigt. Keine Therapieprodukte, sondern Kunst

Eine Gruppe von rund zwanzig Menschen drängelt sich trotz Nieselregens vor zwei Schaufenstern im nächtlichen Wedding. In der Auslage tänzelt ein Mann im pinkfarbenen Glitzerkleid. Die langen Beine tippeln auf wenigen Quadratzentimetern, der Blick ist genussvoll ins Publikum gerichtet. Olaf ist leidenschaftlicher Schauspieler, das spürt man. Hier bekommt er die Anerkennung, die er vermutlich sonst in seinem Leben oft vermisst hat.

„Der helle Wahnsinn“ ist es, was von Donnerstag bis Sonntag im Wedding stattfindet – ein Festival, das die Kunst behinderter Menschen zeigt. Organisiert von der Kolonie Wedding und dem Rüdersdorfer Zirkus „BunterHund“. Olaf ist Mitglied in einer integrativen Theatergruppe, die zum BuntenHund gehört. Integrativ heißt: Hier spielen behinderte Menschen zusammen mit Nichtbehinderten, Alte zusammen mit ganz Jungen. Sechzig Schauspieler und Artisten gehören mittlerweile zum Spielerstamm des Zirkus. Bis zu zehn Auftritte absolvieren sie im Monat.

Heute Abend zeigen sie in einer „Freakshow“ lebendige Bilder, nur mit ihrem Körper. Extrem und grotesk sollen die Bilder sein, das war die einzige Vorgabe der Regisseurin und Mitspielerin Christina Reitmeier. „Bei uns ist Platz für Verrücktheiten. Wenn die eine sagt, sie will mit Ledermaske und Mixer auftreten – bitte.“ Und so tritt in der nächsten Schaufensterszene eine junge Frau auf, bekleidet mit Lederkappe und seidenem Bademantel, die einen Pürierstab bedient. Nach der Vorstellung kreist dann ein Topf mit frisch gemixter Avocado-Creme. Das Publikum freut sich über so viel Unkonventionalität.

Der Wedding, selbst mit Klischees bedacht und wenig beachtet, ist der Schauplatz dieses Festivals. „Der Wedding ist ausgegrenzt“, sagt Peter Slavik, der das Festival mitorganisiert und seit 19 Jahren im Wedding lebt. „Die Leute spüren das hier; die fühlen sich in die Ecke gedrängt. Das hat mir nahe gebracht, wie sich behinderte Menschen fühlen müssen.“ Das Festival findet deshalb schon zum zweiten Mal hier statt. „Grenzen verschwimmen“, so betitelte er die Veranstaltung im letzten Jahr.

Doch die Grenzen zwischen dem Wedding und der Behindertenkunst – sie verschwimmen nur langsam. Nur wenige Anwohner sind gekommen zum Eröffnungsabend am Donnerstag. Immerhin sitzen in der ersten Reihe einige türkische Jugendliche aus dem Kiez. Ein behinderter türkischer Junge führt Breakdance vor, solange bis es los geht mit der Eröffnung. Letztes Jahr seien die älteren Anwohner am Fenster gestanden und hätten gestaunt, erzählt Slavik. „Über die Lust am Geschehen verbindet sich das langsam. Das funktioniert aber nur, wenn etwas ganz geballt auftritt, wie bei diesem Festival.“ Zehn Galerien im Kiez zwischen Osloer und Soldiner Straße werden noch bis Sonntag Schauplatz von Theater und Zirkus sein und gleichzeitig Bilder behinderter Künstler zeigen.

Wer denkt, das ist halt so ein Festival, bei dem Behinderte zeigen dürfen, was sie in der therapeutischen Werkstatt so machen, der unterschätzt die Veranstaltung. „Nein, die machen wirklich Kunst“, meint auch Slavik. Ein normaler Maler müsse sich ja immer an Moden orientieren. Das macht ein Behinderter nicht. Der gibt sein Eigenstes, das mache die Bilder spannend, das mache ihre Originalität aus.

MIRJAM DOLDERER