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Archiv-Artikel

„Die politische Kultur im Irak erlaubt keine friedliche Lösung“, sagt Edward Luttwak

Seit der künstlichen Staatsgründung durch die Briten herrschte im Zweistromland immer Diktatur oder Anarchie

taz: Herr Luttwak, wann sollen die USA aus dem Irak abziehen.

Edward Luttwak: So bald wie möglich. Es gibt keine positiven Effekte durch die Besatzung. Das Schicksal des Irak ist bestimmt durch seine politische Kultur.

Welches Schicksal?

Die politische Kultur im Irak erlaubt dem Land gegenwärtig kaum eine friedliche Lösung seiner inneren Konflikte. Die Sunniten sind zwar in der Minderheit, betrachten sich aber nicht als solche, sondern sehen sich als natürliche Herrscher des Landes. Sie sind erpicht, wenn das amerikanische Intermezzo erst einmal vorbei ist, wieder die Macht zu übernehmen. Sie wollen nicht unbedingt die Kurden dominieren, jedoch die Schiiten, die in ihren Augen minderwertig sind. Gegenwärtig gibt es keine kulturelle Basis für eine friedliche Ordnung im Irak. Seit der künstlichen Staatsgründung durch die Briten gab es entweder Diktaturen oder kurze Perioden der Anarchie.

Welche Chancen geben Sie der Übergangsregierung?

Sie muss es irgendwie bis zu den Wahlen schaffen, diese zumindest durchzuführen. Sollte das gelingen, hat sie eine Menge erreicht. Trotz der enormen Probleme dürfte es im Vergleich zu vielen arabischen Staaten die beste aller Wahlen werden. Die Latte liegt einfach nicht besonders hoch.

Sollen US-Truppen nicht wenigstens die Wahlen absichern?

Das werden sie versuchen, die Wahlen sind ja bereits im Januar. Aber es ist keine Frage von Bleiben oder Abziehen. Man kann entweder versuchen, im Land zu bleiben und jeden Quadratkilometer zu kontrollieren. Oder man erhält eine Präsenz in Bagdad und einigen wichtigen anderen Regionen und lässt den Großteil des Landes sich selbst verwalten oder ins Chaos stürzen.

Sie fürchten Chaos nicht?

Nein. Nehmen wir das Beispiel Falludscha. Die Stadt wurde aufgegeben in einer Art stillem Rückzug – die tatsächliche Politik der US-Militärs vor Ort. Nach der Aufgabe fiel die Stadt in die Hände von Terroristen, Baath-Partei-Anhängern und anderen rivalisierenden Gruppen. Unter ihnen gibt es viel mehr Konflikte als mit den Amerikanern. Doch diese führten zu einem Gleichgewicht, in dem die extremen Fanatiker durch die weniger fanatischen kontrolliert wurden. Sicher werden die Konflikte in Zukunft auch blutig ausgetragen, doch es ist eine Frage der Abwägung, ob dies die Knochen unserer GIs wert ist.

Es gibt also keine amerikanische Verantwortung, schließlich hat die Invasion diese Konflikte erst ausgelöst?

Verantwortung zeigt sich auch darin, ein sinnloses und tragisches Projekt aufzugeben. Sicher, die Invasion war ein riesiger Fehler. Doch deswegen auf Teufel komm raus im Irak zu bleiben, als unerwünschte Streitmacht, die den Kopf hinhält, ist kontraproduktiv. Außerdem verlangt ein Rückzug erhebliches Geschick, nicht zuletzt diplomatisches. Das geht schließlich nicht von heute auf morgen.

Doch Bush will „Kurs halten“. Ein Unterfangen, das also zum scheitern verurteilt ist?

Erstens, wir befinden uns bereits in einem Prozess des Rückzugs, auch wenn dieser eher stillschweigend geschieht. Zweitens, es ist ja gar nicht seine Politik. Ich glaube nicht, dass Bush ein Fanatiker ist, sondern eher pragmatisch, siehe die Rolle der Vereinten Nationen im Irak. Erst zeigt er ihr die kalte Schulter, jetzt will er sie unbedingt im Boot haben. Wenn John Kerry ins Weiße Haus einziehen sollte, wird man ein Mikroskop brauchen, um den Unterschied zwischen seiner und Bushs Irak-Politik zu finden. Bush hat sich nach dem 11. September manipulieren lassen von den Neokonservativen. Doch diejenigen, die diesen Krieg vom Zaun gebrochen haben, wie Paul Wolfowitz und Richard Perle, sind seit Monaten völlig von der Mitsprache in der Irakpolitik ausgeschlossen.

Schadet oder hilft ein baldiger Truppenabzug dem weltweiten Ansehen der USA?

Amerika hat sein Ansehen immer durch Rückzug wiederhergestellt. Alles was es tun muss, ist den Irak verlassen. Doch das Problem bleibt für die USA ein grundsätzliches: Als Supermacht lösen wir sozusagen natürlich überall in der Welt Ängste aus und wir machen uns leicht unbeliebt. Reagieren die Vereinigten Staaten über, gibt es weltweit einen Sturm der Entrüstung. Kaum halten wir uns zurück, wie jetzt im Sudan, schreien die gleichen Kritiker Hilfe und werfen uns mangelndes Engagement vor. Im Falle Irak haben wir ganz klar überreagiert.

Was sollte die US-Regierung als nächstes tun?

Sie sollte mit dem baldigen Rückzug zumindest drohen. Solange die Amerikaner das Land besetzen, sind sie willkommene Sündenböcke für alle Konfliktparteien im Irak und seine Nachbarn. Es gibt keinen Anreiz zur ernsthaften Kooperation. Dies würde sich schlagartig ändern, und die Saudis, Iraner und Syrer müssten sich um ihrer eigenen Sicherheit willen an einen Tisch setzen. Nüchtern betrachtet haben die Amerikaner wenig zu verlieren, die Nachbarstaaten jedoch sehr viel.

INTERVIEW: MICHAEL STRECK