: Ideal einer vollkommnen Zeitung
VON KARL PHILIPP MORITZ
|3| Schon lange habe ich die Idee mit mir herum getragen, ein Blatt für das Volk zu schreiben, das wirklich von dem Volke gelesen würde, und eben dadurch den ausgebreitetsten Nutzen stiftete. Diesen Gedanken, nahm ich mir vor, erst hinlänglich bey mir reif werden zu lassen, ehe ich ihn je zur Ausführung brächte. Seitdem ist aber diese Idee durch verschiedene elende Schmierer so oft gemißbraucht und herabgewürdigt worden, daß ich es manchmal nicht ohne Aerger und Unwillen habe mit ansehen können.
Endlich fiel ich darauf, daß eine einmal eingeführte und gelesene Zeitung vielleicht das beste Vehikel sey, wodurch nützliche Wahrheiten unter das Volk gebracht werden könnten. Dieß bewog mich vor einigen Monathen zu dem Entschluß, mit den Herrn Voß und Sohn in Verbindung zu treten, um die hiesige Zeitung, welche in derem [sic!] Verlage herauskömmt, zu schreiben.
|4| Seitdem ist mir meine erste Idee immer lebhafter und immer wichtiger geworden, so daß ich mich nicht enthalten konnte, mir zuweilen in reizenden Träumen der Phantasie das Ideal einer vollkommnen Zeitung zu denken, und einige Züge davon zu entwerfen. Mag ich dann dieses Ideal auch nie erreichen, so wird es doch immer das höchste Ziel bleiben, wonach ich strebe, und komme ich ihm jemals nahe, so glaube ich schon dadurch einen der edelsten Zwecke des Schriftstellers erreicht zu haben.
Die Buchdruckerey ist schon irgendwo als ein Bildniß der verbreiteten Kultur angenommen worden; und mir däucht, daß ihr, nicht bloß als Bild, sondern im ganz eigentlichen Verstande, der Ehrennahme verbreitete Kultur gebühre.
Nun ist aber vielleicht unter allem, was gedruckt wird, eine öffentliche Zeitung oder Volksblatt, aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtet, bey weitem das wichtigste. Sie ist der Mund, wodurch zu dem Volke gepredigt, und die Stimme der Wahrheit, so wohl in die Palläste der Großen, als in die Hütten der Niedrigen dringen kann. Sie könnte das unbestechliche Tribunal seyn, wo Tugend und Laster unpartheiisch geprüft, edle Handlungen der Mäßigkeit, Gerechtigkeit, und Uneigennützigkeit gepriesen |5|, und Unterdrückung, Bosheit, Ungerechtigkeit, Weichlichkeit und Ueppigkeit mit Verachtung und Schande gebrandmarkt würden.
Sie sollte die Werke des Geschmacks in der Baukunst, Musik, Malerey, Schauspiele u. s. w. vor ihren unpartheiischen Richterstuhl ziehen, und sie vorzüglich in Rücksicht ihres Einflusses auf die Bildung und den Charakter der Nation, und nicht bloß als Gegenstände der Belustigung, betrachten.
Aus dem ungeheuren Umfange der Wissenschaften sollte sie dasjenige herausheben, was nicht bloß den Gelehrten, oder gar nur eine besondere Klasse der Gelehrten, sondern die ganze Menschheit interessirt. Was nicht bloß hinzugetragene Materialien zu dem großen Gebäude irgend einer Wissenschaft, sondern etwas Vollendetes, von Schlacken gesäubertes, und durch den ächten Stempel der Wahrheit ausgeprägtes Gold ist, das nun unter dem Volke, unbeschadet der Ruhe und Glückseeligkeit desselben, in wohlthätigen Umlauf kommen kann.
Sie sollte in alle Fugen der menschlichen Verbindungen einzudringen, und aufzudecken suchen, was in jedem Zweige derselben Lobens- oder tadelnswerthes, Verachtungs- oder nachahmungswürdiges sey. Ihr sollte kein Gewerbe, kein Stand, |6| selbst der Stand des verachteten und größtentheils unterdrückten und tyrannisch behandelten Lehrburschen des gemeinen Handwerkers nicht unwichtig seyn.
Weder die Privaterziehung noch die öffentliche in den Schulen, und die Belehrung der Erwachsenen in den Kirchen müßte ihrem spähenden Blick entgehen. Sie müßte die Mängel derselben rügen, wo sie nur irgend dürfte und könnte. Und hingegen jede Nachricht auch von der kleinsten Verbesserung in dieser für die Menschheit so wichtigen Angelegenheit sorgfältig zu verbreiten suchen.
Eltern, Erzieher, Menschen die in einer Stadt zusammen, oder entfernt leben, könnten sich einander ihre wichtigsten Vorschläge und Entdeckungen mittheilen, und sich durch die Zeitung miteinander über die angelegentlichsten Dinge besprechen.
Jede nützliche Erfindung, sie sey so klein sie wolle, müßte ein Hauptgegenstand der Aufmerksamkeit werden, um den guten Kopf zu neuen Entdeckungen aufzumuntern, und den erfindrischen Fleiß, ein Eigenthum der Deutschen, aufs neue zu beleben.
Die öffentliche Handhabung der Gerechtigkeit, wobey uns erlaubt ist, Zuschauer zu seyn, müßte einen reichen Stoff zu wichtigen Beobachtungen hergeben. Und würde gewiß, gehörig bearbeitet, |7| einen sehr interessanten Artikel in einer Zeitung für das Volk ausmachen.
Die kurze Geschichte der Verbrecher aus den Kriminalakten gezogen, wie belehrend müßte sie seyn, wenn die allmäligen Uebergänge von kleinen Vergehen, bis zum höchsten Grade der moralischen Verderbtheit, mit einigen treffenden, allgemein auffallenden Zügen darin gezeichnet wären!
Die feierlichen und festlichen Zusammenkünfte des Volks, ja sogar seine Ausschweifungen in öffentlichen Häusern müßten nicht unbemerkt bleiben, sondern zur öffentlichen Beschämung unsrer weichlichen entnervten Generation mit lebhaften Farben geschildert werden.
Aber auch das Elend und die Armuth in den verborgnen Winkeln muß aufgedeckt, und nicht aus einer falschen Empfindsamkeit vor unserm Blick in Dunkel eingehüllt werden. Das Elend, wenns einmal da ist, muß unter uns zur Sprache kommen, und auf Mittel gedacht werden, wie man demselben abhelfen kann!
Also edle Beispiele; Künste; Theater; Kenntnisse, die zum Umlauf reif sind; Erziehung; Predigtwesen; nützliche Erfindungen; Handhabung der Gerechtigkeit; Geschichte von Verbrechern; menschliches Elend im Verborgnen |8|; – welche wichtige Artikel zu einer Zeitung für das Volk!
Und wie viel mehrere lassen sich nicht noch denken, als: Volksvorurtheile; Volksirrthümer; religiöse Schwärmerei; unerkanntes Verdienst u. s. w. – Wahrlich es ist zu verwundern, da man bisher so viel von Aufklärung geredet und geschrieben hat, daß man noch nicht auf ein so simples Mittel, als eine Zeitung, gefallen ist, um sie in der That zu verbreiten.
Freilich aber müßte nun eine Zeitung, wodurch dieser Zweck erreicht werden soll, ganz anders beschaffen seyn, als irgend eine, die jemals noch bis jetzt ist geschrieben worden. Sie müßte aus der immerwährenden Ebbe und Fluth von Begebenheiten dasjenige herausheben, was die Menschheit interessirt, den Blick auf das wirklich Große und Bewundernswürdige, das Gefühl für alles Edle und Gute schärfen, und den Schein von der Wahrheit unterscheiden lehren.
Die Aufmerksamkeit müßte daher vorzüglich auf den einzelnen Menschen geheftet werden: denn nur da ist die wahre Quelle der großen Begebenheiten zu suchen, nicht in Kriegsheeren und Flotten, die oft nur wie zwei entgegengesetzte Elemente gegeneinander |9| wirken, worunter das Stärkere allemal über das Schwächere den Sieg behält.
Auch sind ja das nicht immer die größten Begebenheiten, wobei die meisten Menschen beschäftigt sind, sondern diejenigen, wobei sich irgend eine menschliche Kraft am meisten entwickelt. Dergleichen suche man unter dem Schwall von Kriegsrüstungen, Fürstenreisen, und politischen Unterhandlungen herauszuheben, damit das Volk nicht mehr Titel und Ordensbänder, fürstlichen Stolz und fürstliche Thorheiten mit dummer Verehrung anstaune, sondern den wirklich großen Mann auch im Kittel und hinter dem Pfluge schätzen lerne.
Sobald man zu viele Menschen zusammenfaßt, um von ihnen etwas zu sagen, so muß das, was man sagt, nothwendig unbestimmt, schwankend, und trocken werden.
Denn in einer Gesellschaft von Menschen, sie sey, welche sie wolle, handeln doch nur immer einzelne Menschen, und diese sind es nur, welche unsere Theilnehmung erwecken, nicht die ganze Gesellschaft. Diese ist höchstens ein abstrackter Begriff, dessen wir uns aus Noth bedienen müssen, der uns aber nicht mit denken, empfinden, und handeln läßt. Da wir selbst nur einzelne und nicht aus mehrern zusammengesetzte Wesen sind, so können wir auch mit einem |10| so vielköpfigten zusammengesetzten Dinge, als irgend eine menschliche Gesellschaft ist, sie heiße nun Staat oder wie sie wolle, im eigentlichen Verstande nicht sympathisiren, wenn wir sie nicht wider bis auf das Individuum vereinzeln. Abstrackte Begriffe können ja die Seele nicht erwärmen.
Bloß die verschiednen Gesinnungen und Charaktere der einzelnen Mitglieder des Englischen Parlaments, machen die Verhandlungen desselben so interessant, und zum Gegenstande der allgemeinen Aufmerksamkeit auch solcher Nationen, die mit der Englischen in wenig oder gar keiner Verbindung stehen.
Sicher erwecken die Berathschlagungen an sich selber mehr unsre Theilnehmung, als die Resultate, welche daraus entstehen. Denn was heißt es nun, wenn man sagt: Frankreich hat dieses oder jenes beschlossen, u. s. w. als ob Frankreich ein selbstständiges handelndes Wesen wäre, das so wie ein einzelner Mensch, wirklich etwas beschließen könnte. Giebt mir dies nun wohl mehr Stoff zum Nachdenken, als wenn es heißt: in Paris ist ein starker Hagel gefallen, oder in Metz hat das Gewitter eingeschlagen?
Und ist nicht das Hinarbeiten auf einen Zweck im menschlichen Leben ebenso wichtig und vielleicht |11| wichtiger, als die Erreichung des Zwecks selber? Macht nicht die Thätigkeit selbst unser Wesen aus? Und läßt uns nicht vielleicht eine wohlthätige Täuschung diese Thätigkeit bloß deswegen, als das Mittel zu irgendeinem Zwecke betrachten, damit dieser anscheinende Zweck das Mittel werde, uns eine Zeitlang in eine bestimmte, zweckmäßige Thätigkeit zu versetzen?
Ist es also nicht wichtiger, einzelne Fakta von einzelnen Menschen zu sammeln, woraus einmal künftig große Begebenheiten entstehen können, als eine Menge von großen Begebenheiten zu erzählen, ohne zu wissen, wie sie entstanden sind? – Dieß soll auf keine Weise, die großscheinenden Begebenheiten von der öffentlichen Bekanntmachung ausschließen, nur müssen sie nicht der wichtigste Gegenstand der Aufmerksamkeit werden. Denn, ein Vergleich zwischen zwei Sackträgern, die sich auf der Straße gezankt haben, kann, in so fern er den Charakter der Nation bezeichnet, für den Menschenbeobachter wichtiger sein, als ein Vergleich zwischen Rußland und der ottomannischen Pforte, wo es größtentheils bloß auf die stärkere Macht an Soldaten, Schiffen, oder festen Plätzen ankömmt, wohin sich das Uebergewicht lenken wird; wo man die geheimen Triebfedern ebenso wenig erfährt, als |12| die erste Ursach von den [sic!] Ungewitter, welches gerade heute, und nicht eher, über unsern Horizont heraufgezogen ist; wo man nicht sowohl handelnde Wesen, als vielmehr bloße Ereignisse, wie in der Natur, Stürme, Erdbeben, Ueberschwemmungen sieht.
Demohngeachtet muß eine vollkommne Zeitung auch in Ansehung der eigentlichen politischen Ereignisse mit der Zeit gleichen Schritt halten, aber doch mehr in einzelnen Beispielen zu zeigen suchen, was diese Ereignisse nun eigentlich auf das Wohl oder Weh der Menschheit für einen Einfluß haben. Denn nur das Einzelne ist wirklich, das Zusammengefaßte besteht größtentheils in der Einbildung.
Vorzüglich muß also eine vollkommene Zeitung aus der gegenwärtigen würklichen Welt, die man täglich vor Augen sieht herausgeschrieben werden, und zu dem Ende nothwendig in einer großen Stadt herauskommen, wo wegen der Menge der Menschen auch die größte Mannigfaltigkeit in ihren Charakteren, Beschäftigungen, und Verbindungen herrscht; wo ein beständiger Zufluß von Merkwürdigkeiten statt findet, und wo sie sogleich von vielen tausend Menschen gelesen werden kann, ohne erst versandt werden zu dürfen.
|13| Wer eine solche Zeitung schreiben will, muß selbst, so viel er kann, mit eignen Augen beobachten, und wo er das nicht kann, muß er sich an die Männer halten, die eigentlich unter das Volk, und in die verborgensten Winkel kommen, wo das Edelste und Vortrefflichste sowohl, als das Häßlichste und Verabscheuungswürdigste, sehr oft versteckt zu seyn pflegt.
Er muß sich an die Prediger und Aerzte wenden, die das verborgene menschliche Elend, und die verborgenen menschlichen Tugenden oft am besten kennen zu lernen Gelegenheit haben. Er muß sich an die Richter des Volks wenden, um durch ihre Verhandlungen den großen Umfang des menschlichen Eigennutzes, und aller seinen kleinen Listen und Ränke kennen zu lernen. Er muß wenigstens mit einigen Personen aus jeder verschiedenen Klasse von Menschen in sofern in Verbindung stehen, daß er von ihnen über das Innere ihrer Verfassung belehrt werden kann.
Er muß sich aber auch selber unter das Volk mischen, um seine Urtheile, seine Gesinnungen zu hören, und seine Sprache zu lernen.
Er muß nichts weniger als ein einseitiger Gelehrter seyn, sondern sich für alles interessiren können, was ihm nur irgend aufstößt, und sich täglich |14| in der schweren Kunst üben, alles Vielfache unter irgend einen großen und wichtigen Gesichtspunkt zu bringen. Er muß die gegenwärtige Welt vorzüglich kennen lernen, und von der alten so viel, als nöthig ist, um das Gegenwärtige daraus zu erklären. Und was noch das allerwichtigste ist, er muß sich eines unbescholtnen Charakters befleißigen, denn nur das berechtigt, mit einer edlen Freimüthigkeit öffentlich vor dem Volke zu reden und zu schreiben.
Daß ich nun gerade der Mann sey, eine solche Zeitung zu schreiben, wäre freilich Unverschämtheit von mir zu glauben; deswegen aber darf ich den Wunsch nicht verläugnen, es zu werden: ich darf es sagen, daß ich all mein Denken, mein Studiren, mein Leben darauf verwenden will, um eine Zeitung zu liefern, die dem Ideale, welches ich mir entworfen habe so nahe, wie möglich kömmt.
Seit dem Monath September habe ich angefangen, zu diesem Unternehmen die ersten Schritte zu thun. Ich habe nach einer kürzer gefaßten Anzeige der politischen Ereignisse, die Aufmerksamkeit mehr auf einzelne merkwürdige Menschen zu lenken gesucht; ich habe Beispiele edler Handlungen aus dem Dunkeln gezogen; ich |15| habe durch die gelehrten Anzeigen, zum Umlauf reif gewordne Kenntnisse zu verbreiten, und in dem Theaterartikel das Vortrefliche vor dem Mittelmäßigen, das Mittelmäßige von dem Schlechten, auszuzeichnen gesucht.
Mit den übrigen im Anfange dieser Schrift von mir erwähnten Artikeln, als öffentliche und Privaterziehung; Kunstsachen, als: Baukunst, Mahlerei, Musik u. s. w.; Handhabung der Gerechtigkeit; Missethäter; Volksvorurtheile; Volksirrthümer; Predigtwesen; u. s. w. werde ich von Zeit zu Zeit den Anfang machen, so wie sich mir die Gelegenheit dazu darbieten wird; und mit Anfang des künftigen Jahres denk' ich dieser Zeitung, in Ansehung aller dieser Artikel, eine dauerhaftere Einrichtung zu geben, ohne dieserwegen noch künftige Verbesserungen auszuschließen. Auch ist schon mit einem hiesigen berühmten Künstler Abrede genommen worden, das Aeußere dieser Zeitung vom künftigen Neujahr an, so geschmackvoll wie möglich einzurichten. Denn da sie den guten Geschmack auch in Kleinigkeiten soll verbreiten helfen, so versteht sich, daß sie selbst kein Beispiel vom Gegentheil hergeben muß.
|16| Ich erwarte nun über meine Vorschläge das Urtheil des Publikums, mit welchem ich mich vor dem Schlusse des Jahres noch einmal über diese Angelegenheit zu unterreden gedenke, um zu erfahren, in wie weit ich mich, mit der Zufriedenheit desselben, meinem Ideale nähern darf.
Als Broschüre von einem Druckbogen (16 Seiten) erschienen bei Christian Friedrich Voß & Sohn, Berlin 1784. Die Orthografie folgt bis auf wenige Korrekturen dem Original, das über die Moritz-Edition der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zugänglich ist.