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Archiv-Artikel

Rebellion der linken Spießer

Ein Obdachlosenheim zieht um – aus der Friedrichshainer Industriebrache ans aufstrebende Engelbecken. Seit Wochen tobt darum zwischen Anwohnern, Heimbetreibern und Bezirk ein erbitterter Streit. Bericht aus einem anderen Kreuzberg

„Wir sind ein offenes Haus, aber kein Zoo“, sagt Heimleiterin Cornelia Leibholz „Belästigung, Körperverletzung und Mord“ befürchtet ein Eigentümer

von JAN ROSENKRANZ

Diese Geschichte beginnt mit einem Brief und endet mit zerstochenen Autoreifen. Natürlich hat diese Geschichte kein richtiges Ende, aber eigentlich hat sie auch schon vor dem Brief begonnen. Es geht um einen Streit, ein Dach über dem Kopf und sehr viel Geld. Ach ja, um Obdachlose geht es auch.

Diese Geschichte hat damit zu tun, dass Cornelia Leibholz aufgehört hat, mit dem Rauchen aufzuhören. Wegen dem Stress. Also zündet sie sich eine neue Zigarette an. Cornelia Leibholz ist Ende 40 und die freundlich-resolute Geschäftsführerin der Siefos GmbH, und eine von zwei Gesellschafterinnen ist sie auch.

Siefos betreibt in Friedrichshain ein Wohn- und Sozialprojekt für etwa 100 schwerstalkoholabhängige und psychisch kranke Menschen ohne Wohnung – Menschen, die nicht allein leben können und die kein Pflegeheim nimmt. Doch weil der Mietvertrag Ende März 2004 ausläuft, weil der Großinvestor Anschutz das Areal bebauen will, hat Siefos in Kreuzberg ein Haus gekauft – Legiendamm Ecke Waldemarstraße. Ende des Jahres wollen sie umziehen. Das Haus wurde als Obdachlosenheim erbaut, bis Mitte der 90er genutzt, dann stand es leer. „Es ist perfekt“, sagt Frau Leibholz.

Wer Frau Leibholz besuchen will, biegt gegenüber der East Side Gallery in eine breite Einfahrt, geht rechts vorbei an der Disko Busche und links hinein in ein altes Lagerhaus. Wenn sie nicht irgendwo auf drei Etagen in den Zimmern nach dem Rechten schaut, sitzt sie unten im dunklen Büro, raucht, schenkt Kaffee nach und sagt: „Wir sind ein offenes Haus, aber kein Zoo.“ Es kam viel Besuch in den vergangenen Wochen. Zu viel.

Irgendwann im Sommer war auch ein Mann da. Der muss sich furchtbar gegruselt haben. Er wohnt am Engelbecken, dort, wo Siefos mit den Obdachlosen hinziehen will. Er hatte nur zufällig davon erfahren. Er wollte mal sehen, was das für neue Nachbarn sind. Nachbarn, die er nicht haben will. Weil sie besoffen vor der Tür rumtorkeln. Weil sich sein Viertel gerade fein entwickelt. Weil ihn vorher niemand gefragt hat. Eine stinkende Urinspur hat ihm den Weg gewiesen. Das hat er jedenfalls Frau Leibholz geschrieben. Und dass Siefos am neuen Ort nicht glücklich wird, das auch.

Frau Leibholz raucht und zieht den Brief aus einem dicken Ordner. Mit ihm hat alles angefangen. Der ganze Ärger. Sie hat ihn oft herumgezeigt. Er ist schon ganz zerknittert. Der Absender heißt Wieland Giebel. Er verlegt Bücher und betreibt Unter den Linden den Buchladen Berlin Story. In den 70ern hat er den linken Verlag Elefanten Press mitgegründet, im Juni die „Initiative Engelbecken“ – eine undurchsichtige Melange aus Anwohnern, Eigentümern, Architekten und Investoren. Herr Giebel ist ihr stummer Sprecher. Aber davon später mehr.

Der Brief tut ihm inzwischen furchtbar Leid. Nein, es liegt ihm wirklich fern, jemanden so böse zu beleidigen und gegen Obdachlose habe er eigentlich rein gar nichts. Jedenfalls hat er das im zweiten Brief geschrieben. Und dass er den Umzug weiter bekämpfen will, das auch. Reden aber möchte Herr Giebel nicht mehr – schon gar nicht mit Journalisten. Weil die ihn und seine Mitstreiter immer in die rechte Ecke stellen. Weil niemand sie verstehen will und alle nur die platte Story sehen: Yuppies gegen Obdachlose, Reich gegen Arm, Böse gegen Gut.

Anfang Juli hielt die Initiative die erste Bürgerversammlung ab. Der Verkauf der Immobilie durch den Liegenschaftsfonds an Siefos stand kurz bevor – das wollten sie verhindern. Wegen der Nähe zur Alkoholszene am Oranienplatz, zur Drogenszene am Kottbusser Tor. Man beschwört die „große Gefahr für die weitere Entwicklung des gesamtes Gebietes“ und beklagt, mit dem Heimumzug sinke der Wohnkomfort und, nun ja, auch der Immobilienwert. Frau Leibholz sagt: „Am Anfang, da waren die Leute noch ehrlich.“ Sie kann die Sorgen sogar verstehen. Sie findet sie nur völlig unbegründet. Sie sagt: „Bei uns wohnt zwar nicht die Zehlendorfer Oma. Aber auch kein Ungeheuer.“

Doch rings um das Engelbecken grassiert die nackte Angst, behauptet die Giebel-Initiative. Sie hat Flyer verteilt und Eigentümer informiert, auf dass sie Protestbriefe schreiben an Bezirk und Senatoren. Der Unternehmer Stefan Hansen jedenfalls macht sich wirklich große Sorgen. Er investierte 10 Millionen Euro und betreibt hier eine Agentur. Er sorgt sich nicht nur um seine weiblichen Angestellten, die oft erst spät nach Hause gingen, er fürchtet auch, er könne mit seinen Geschäftspartnern in dieser Gegend nicht mehr ungestört zum Essen gehen. Das hat er deshalb Stadtentwicklungssenator Peter Strieder geschrieben. Der sollte das ruhig wissen.

Ein Eigentümer, der in London wohnt und Axel Boje heißt, beklagt im Brief an den Bezirk, dass „Belästigungen, Körperverletzungen und Mord der Anwohner und Besucher stattfinden“. Große Geschütze für große Summen: Aus 40 Millionen investierten Euro und „Wohnwertminderung von mindestens 25 Prozent“ ergibt sich ein Schaden von 10 Millionen Euro, rechnet der „Management Consultant“ vor. Und stellt eine Klage in Aussicht.

Von derart polemischen Ausfällen hat sich die Initiative distanziert. Längst ist man bei Stufe 2 der Argumentation und sorgt sich nun vor allem um das Wohl der Obdachlosen. Man fragt sich, ob eine Lage am Stadtrand nicht auch für die Bewohner sehr viel besser wäre. Ohnehin sei ein Heim für 143 Menschen wohl eher eine „Verwahranstalt“, heißt es im Flyer der Initiative.

Frau Leibholz macht die Stufe 2 sehr wütend. Sie findet, dass das eine Frechheit ist. Zurzeit leben etwa 100 Heimbewohner auf 3.000 Qudratmetern. Am Engelbecken wären es maximal 143 auf 5.000 Quadratmetern mit großem Hinterhof und vier Linden. „Natürlich würden wir auch lieber mehrere kleine Heime betreiben, aber das zahlt uns doch kein Mensch“, sagt sie.

Stufe 3 der Argumentation: Gegen ein Heim an sich habe man nie etwas gehabt. Man fragt sich aber, ob Siefos, eine private Firma, überhaupt der rechte Träger sei. Man fragt sich, ob er sich nicht auf Kosten der Klienten bereichere.

Diese Stufe bringt Frau Leibholz schier dem Wahnsinn nahe. Deshalb steckt sie sich schnell noch eine Zigarette an und erzählt von Richtlinien, Auflagen und Kontrollen und davon, dass Siefos jetzt auch einen Flyer hat, dass sie ein Sorgentelefon einrichten wollen und einen runden Tisch. „Wie gesagt“, sagt sie, „am Anfang waren die Leute wenigstens noch ehrlich. Aber das jetzt ist reine Diffamierung.“

Ja, es beschäftigen sich inzwischen viele mit dem Engelbecken. Viel zu viele und auch Kerstin Bauer, die Sozialstadträtin von der PDS. „Man darf das alles nicht so an sich ranlassen“, sagt sie. Sie wundert sich nur über das „ungeheure Potenzial der Initiative“, das alle in Trab hält – den Senat, den Liegenschaftsfonds, die Bezirksverwaltung und dort vor allem sie. „Wir hätten die Anwohner früher informieren müssen“, sagt sie. Dann macht sie eine kurze Pause. „Ich meine das durchaus selbstkritisch.“ Aber es klingt nicht so, als würde sie glauben, dass das wirklich etwas geändert hätte.

Jetzt wird sich ohnehin nicht mehr viel ändern lassen. Das Heim wird kommen. Nur über die Größe wird noch verhandelt. Sechzig Plätze sind fest vereinbart. Sechzig Plätze zur Beheimatung von Obdachlosen, die in keine Wohngemeinschaft passen und die kein Pflegeheim nimmt, weil sie trinken. Siefos will weitere achtzig Plätze für ein Kurzzeitobdach. „Im Bezirk gibt es noch freie Kapazität. Vielleicht reichen auch weniger“, sagt Frau Bauer. Morgen will sich die Bezirksverordnetenversammlung noch einmal mit dieser Frage befassen.

„Man versteht immer weniger, was hier in der Sozialpolitik passiert“, klagt eine bürgerbewegte Anwohnerin. Natürlich klagt auch sie nur schriftlich. Reden mag sie nicht. Reden mag kaum jemand mehr – jedenfalls nicht öffentlich. Dabei ist vielleicht nicht zu verstehen, was hier in der Sozialpolitik passiert. Vielleicht hat die Initiative mit ihrer Kritik sogar Recht, vielleicht ist der Kiez zu fragil, das Heim zu groß und Sifos nicht gut genug. Nur, wer soll ihnen das glauben? Nach all dem Wahnsinn, der gesagt und so eifrig geschrieben wurde?

Nach jeder Presserunde eskalierte der Streit weiter. Vor allem einer musste das erfahren. „Obdachlose willkommen – Wieland Giebel raus“, hat jemand vor Wochen an eine Mauer gesprayt. Ein Anwohner konnte gerade noch verhindern, dass Giebels Auto abgefackelt wurde. Alle vier Reifen sind jedenfalls hin – zerstochen. Und als wäre das nicht genug, fand am Sonntag direkt vor seinem Haus auch noch eine Demo statt. Die autonome Gruppe „Kritik und Praxis“ hatte aufgerufen, ein paar Dutzend waren gekommen. Es sollte Würstchen geben vom Grill, aber die Polizei hatte etwas gegen Grillen. Also gab es nur Parolen. Doch Herrn Giebel interessiert das alles nun nicht mehr. Er hat bereits am Samstag auf seiner Homepage www.initiative-engelbecken.de mitgeteilt, dass er sie schließen wird. „Ich gebe auf und ziehe mich zurück.“ Für weitere Gespräche steht er nicht mehr zur Verfügung.