: Merkel-Union ohne Vision
Der CDU fällt es immer schwerer, ihre alten und neuen Milieus zu versöhnen. Es fehlt die gesellschaftliche Perspektive. Schröder könnte so doch noch eine Chance bekommen
Die Merkel’sche Union will, das macht der jetzt veröffentlichte Leitantrag zum CDU-Parteitag im Dezember noch einmal deutlich, noch mehr Eigenverantwortung und noch mehr Reformen, also genau das, was eine Mehrheit eigentlich nicht will. Und aus diesem Dilemma wird sich die Union künftig nur schwer befreien können: der Tatsache nämlich, dass nach allen Umfragen die Menschen zwar für Veränderung und Reformen sind, die aber nicht zu ihren Lasten gehen dürfen. Was der Kanzler ärgerlich als Mitnahmementalität gegeißelt hat, ist wohl eher ein Besitzstands- und Beharrungsdenken, das zutiefst konservativ und auch legitim ist.
Lange Zeit konnte die Union ihre Reformrhetorik mit Vorwürfen über handwerkliche Fehler der Bundesregierung verbinden und damit von den Reformen selbst enttäuschte Wähler auffangen. Die Wahlerfolge bescherten ihr nicht die Ungeduldigen, die noch mehr Liberalisierung, Flexibilisierung und Markt wünschen, sondern jene von der Sozialdemokratie enttäuschten Wähler aus der Unterklasse, die nicht so genau zwischen den laut beklagten Fehlern und den eher leise und dissonant vorgetragenen neuen Zumutungen zu unterscheiden wissen.
Wer CDU wählt, weiß jetzt, dass er nicht weniger, sondern mehr Hartz als bei Schröder bekommt. Nur die CSU beharrt in ihrer etatistisch-bayerischen Eigenständigkeit auf einem sozialen Profil, das dort den Namen Seehofer trägt, während Merkel, Merz, Koch, Schönbohm und Wulff cum grano salis die Waagschale des Marktes schwerer und die des Staates leichter machen möchten. Doch damit wird die Union eben jene in den politischen Auseinandersetzungen um Hartz IV gewonnenen Wähler wieder preisgeben müssen, was auch in Westdeutschland zu größeren rechten Rändern führen kann.
Sollte die Union den Ton sozialer Kälte zur Grundlage ihres Werbens um Wähler im Jahre 2006 machen und der Partner FDP die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zumutungen noch verstärken, ist das Ergebnis mehr als ungewiss. Denn dem Sparen fehlt noch immer die gesellschaftliche Vision beziehungsweise die äußere Herausforderung, die das preußische „Gold gab ich für Eisen“ zum anerkannten moralischen Gebot machen würde. Ein unausgeglichener Haushalt ereignet sich nun einmal nicht für eine solche Opfer-Rhetorik.
Und noch etwas dürfte Angela Merkel in den nächsten Monaten Kopfzerbrechen bereiten: ihr geringes Verhaftetsein im westdeutschen Milieu. Denn was bisher jung und unverbraucht wirkte, sieht auf einmal grau aus. Noch halten die jungen wilden Ministerpräsidenten still, noch tragen 14 Wahlerfolge, ein neuer Bundespräsident von Merkels Hand, die Berliner Rede und der Leipziger Parteitag. Doch je hartziger die Wahlergebnisse im Osten ausfallen, desto lauter werden die Konkurrenten Merkels hinter ihrem Rücken fragen: Was bringt sie uns eigentlich noch, wenn sie nicht einmal den Osten bringt.
Gewiss, die CDU ist keine Wetterschutzpartei, wie Paul Nolte kürzlich anmerkte, aber sie muss, wenn sie Wahlen gewinnen will, auch eine Strategie für jene haben, die der Hartz-IV-SPD davonlaufen und mit ihren sozialen Ängsten bei der Union Schutz suchen. Wenn sie erst merken, dass sie dabei vom Regen in die Traufe kommen, hat die Sozialdemokratie wieder eine Chance. Das sich selbst persiflierende Zitat des Kanzlers: „Die sind ja viel schlimmer“, könnte Wirkung zeigen, wenn die Union ganz das patriarchalisch-konservative Gewand zugunsten des schicken neoliberalen abstreift. Es ist nicht leicht, das Plädoyer für wirtschaftliche Dynamik mit wertkonservativen sozialökologischen Zielsetzungen zu verbinden und das Ganze noch in einer Person zu bündeln. Doch ohne einen Versuch in diese Richtung werden sich die neuen Wähler der Union schneller verflüchtigen, als sie alte zurückgewinnen kann. Zu weit auseinander liegen die Alltagserfahrungen des altbürgerlichen Milieus von denen sozial frustrierter junger Arbeiter, als dass sie ohne eine überwölbende politische Botschaft auf Dauer zu einer gemeinsamen politischen Anstrengung zusammengeführt werden können.
Und so bekommen die Sozialdemokraten doch noch eine Chance, ihr Reformpaket den Wählern schmackhaft zu machen, nicht weil es so schön ist, sondern weil es ja vielleicht wirklich einige Verbesserung verspricht und die Medizin der anderen noch bitterer schmeckt. Je stärker die Miegel, Rogowski und tutti quanti auf eine andere Republik drängen, desto größer wird die Chance Schröders, doch noch einmal die Kurve zu bekommen. Ein paar Monate bescheidenen Wachstums und sinkender Beiträge werden das Gefühl verstärken: Es ist vollbracht. Und der Kanzler hat doch Recht gehabt. Ob er dann Recht bekommt, hängt davon ab, wie viele alte Sozialdemokraten ihre Verletzungen der letzten Monate vergessen können und in Schröder noch einen der ihren sehen. Mit der Parole, wir waren die Antreibenden und Gestaltenden, wird Angela Merkel dann Schwierigkeiten haben. Denn die Wähler sehen nur den, der steuert, selten den, der anschiebt.
So stehen in der Mitte der Legislaturperiode die beiden noch immer großen Volksparteien vor den gleichen Problemen. Beide sind an ihrer Spitze von einem Reformkurs überzeugt, den ein Großteil ihrer Anhänger nicht mitträgt oder nur zähneknirschend hinnimmt. Beide kämpfen gegen den Verlust von Milieus, gegen Frustration, stummen Rückzug und die populistische Verlockung in etwa einem Drittel der Gesellschaft, und beide können in unserem System der föderalen Checks und Balances nur miteinander, nicht gegeneinander gewinnen. Beide haben zudem Verbündete, die in diesem Kampf wenig hilfreich sind, da sie von den sozialen Problemen der Gesellschaft weniger betroffen sind als die Anhänger der beiden Großen. Das christliche Gebot, jeder trage des anderen Leid und Last, funktioniert nur schlecht innerhalb der heutigen Lager, da grüne Lehrer und liberale Zahnärzte die Wohlstandsverluste der VW-Familien in Wolfsburg oder der Daimler-Familien in Stuttgart nicht teilen wollen.
Schon einmal, in wirtschaftlich viel besseren Zeiten, vermochte das nur eine große Koalition, in der nicht die einen auf die anderen als Reformbremser zeigen und weder Gewerkschaften noch Arbeitgeberverbände mit außerparlamentarischem Druck liebäugeln konnten. Sollte die gewaltige Anstrengung, der sich jetzt alle unterzogen haben, nicht ausreichen, wie es so manche journalistische und wissenschaftliche Kassandra verkündet, könnte das Land in seiner gegenwärtigen Verfassung vollends unregierbar werden mit Rot-Grün gegen Schwarz-Gelb. Doch das wäre dann nicht die Stunde von Gerhard Schröder und wohl auch nicht die von Angela Merkel, weshalb beide bis auf Weiteres am gegenseitigen Erfolg interessiert bleiben in der Hoffnung, dass sich der 2006 am Ende doch an eine der beiden Fahnen heften lässt.ALEXANDER GAULAND