: Ich bleibt ein Anderer
Der Reiz der Übehöhung, die Flüchtigkeit der Posen: Brigitte Waldach schreibt im Kunstverein Glückstadt die Fotogeschichte neu
von MARC PESCHKE
Claude Cahuns Selbstporträt im Spiegel – eine Inkunabel der surrealistischen Fotografie – ist ein Bild, das sich, einmal gesehen, fest im Gedächtnis einhakt. Die Berliner Künstlerin Brigitte Waldach hat die Schwarzweißfotografie in eine feuerrote Zeichnung übertragen und den spöttischen Blick der Exzentrikerin aus dem Bild verbannt, stattdessen ist der Kopf Cahuns jetzt mit roter Farbe gefüllt, als eine Art Beweis dafür, dass Spiegelbild und Selbst nicht identisch sind.
„Ich, das ist ein Anderer“ – auch das ist eine These von Brigitte Waldachs Ausstellung Sichtung, die noch bis zum 9. November im Palais für aktuelle Kunst in Glückstadt zu sehen ist. Während eines mehrwöchigen Aufenthalts entstanden die meisten der jetzt gezeigten Arbeiten vor Ort. Eine ganze Fotobibliothek hat die Berliner Baselitz-Meisterschülerin für ihre Arbeit „Sichtung rot – our library“ zerpflückt, hat Motive isoliert, als Vorlage gewählt und das Geheimnis der fotografischen Schicht in die Kunst der Zeichnung übertragen. Dabei zerrt es am Selbst, es graust an allen Ecken. Überall rote Blutlachen, Menschen, die an Fäden spazieren geführt werden, die in schwarzen Löchern verschwinden.
So entsteht nach und nach eine neue Geschichte. Waldach schreibt die Fotobibliothek, die ganze Fotogeschichte neu, wirbelt sie durcheinander und entwirft ihren eigenen Roman, eine fiktive Biographie, eine Geschichte, die immer wieder abbricht und neu beginnen kann. Im Surrealismus etwa, auch in Bretons bebildertem Roman Nadja war die Fotografie der poetische Beweis des Unmöglichen, des Wunders und des Zufalls. Waldach überträgt diese zauberhaft-abgründige Atmosphäre in das Genre der Zeichnung. „Sichtung rot – our library“ erinnert etwa auch daran, dass Zeichnung und Fotografie Äste eines Stammes mit derselben Wurzel sind. „Photographie“ – das Zeichnen mit Licht – ist Brigitte Waldach der Anlass einer neuen rechèrche surréaliste.
Doch die Ausstellung im Palais Glückstadt zeigt auf zwei Etagen noch andere Werkgruppen, wie etwa eine Reihe von Malereien – „Sexus – Fehlräume 1 bis unendlich“. Auch hier dienen fotografische Vorlagen – wie etwa Madonnas Fotoband Sex – der Künstlerin, ein neues Bild zu formen. Sie zeigt die Körperposen einer als künstlich verstandenen Wirklichkeit vor atmosphärischen, weißen Hintergründen, schneidet das Künstliche aus der Wirklichkeit aus – und versetzt es in eine minimalistische Traumlandschaft. In einer solchen Überhöhung liegt ein großer Reiz, wie Matthias Harder vom Kunstverein Glückstadt sagt: „Was bleibt in dieser Neonröhrenwelt? Körper, die in einem weißen Vakuum schweben und immer bereit sind, neue Kombinationen einzugehen. Klischees, Posen, Rituale, Sex; alles bleibt flüchtig, kühl – und vielleicht doch erotisch.“
„Communication“ – ein Wort so abgenutzt wie Werbung für Mobiltelefone – gibt einer anderen Reihe den Namen. Auch hier stehen Fotografien am Anfang, doch die Präzision des fotografischen Bildes hat sich bei Brigitte Waldach verflüchtigt. Genauso schwer fassbar wie der Begriff der „Kommunikation“ zeigen sich die kommunizierenden Personen auf den Bildern. Sie scheinen im Gespräch, doch gleichzeitig ganze Galaxien voneinander entfernt. Die dünne Öllasur auf ihren Gesichtern droht zu verlaufen – und die Künstlerin denkt nicht daran, Einhalt zu gebieten.
Kulissen kommunikativer Situationen – „Christine“ hat Waldach eine andere Arbeit der Ausstellung genannt. Ich ist immer ein Anderer, heißt die eine These der Ausstellung. Die andere ist genauso grausam: „Auch wenn du Menschen triffst: Wir bleiben doch immer allein.“
Mi–So, 14–18 Uhr; Kunstverein Glückstadt, Am Hafen 46; bis 9.11