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Archiv-Artikel

Mit Blick nach China

Der EU-Beitritt der Türkei sollte im Rahmen einer globalen Friedensvision gesehen werden. Denn ohne diese Annäherung droht Europa, in Asien an Einfluss zu verlieren

Auch in der Türkei beherrschen historische Vorurteile den Diskurs: Wird Europa diesmal Wort halten?

Die Türkeifrage spaltet Europa. An dieser Frage wird dabei deutlich, wie unvorbereitet der alte Kontinent im Hinblick auf Zukunftsfragen ist. Denn in zwanzig bis dreißig Jahren wird es neben den USA mit China eine zweite Supermacht auf der Welt geben. Die vielleicht alles entscheidende Frage der Zukunft ist deshalb eigentlich nicht das Verhältnis Europas zur Türkei, sondern zu China.

Doch die regierenden Eliten und die Intellektuellen in Europa diskutieren die Türkeifrage bislang ohne diesen strategischen Horizont, der wichtig wäre, um die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Die Vorstellungskraft Europas ist erlahmt. Die grandiose Friedensvision der ersten Stunde ist zu einer bekömmlichen Metapher für Sonntagsreden geworden. Kaum jemand bemerkt, in welcher Weise diese Friedensvision auch für das Verhältnis zur Türkei von Bedeutung ist. Dieses Verhältnis nämlich ist – über das oft zitierte Verhältnis zur islamischen Welt hinaus – von herausragender Bedeutung für das Selbstverständnis Europas.

Jahrhundertelang war die Türkei Europas Gegenpart. Das christlich-abendländische Europa stand dem muslimischen Osmanischen Reich gegenüber. Noch heute üben Bilder von der Türkengefahr bewusst oder unbewusst einen Fantasie fördernden Einfluss auf die europäische Vorstellungswelt aus. Dadurch ist die Türkeifrage in den öffentlichen Debatten mehr zu einer mentalen Frage geworden denn zu einer ökonomischen oder politischen. Scheinbar rationale Argumente werden von irrationalen Gefühlsmomenten überlagert. Sind die Türken nicht ganz anders als wir? Haben wir nicht schon im Inneren Schwierigkeiten, sie zu integrieren? Wird die Türkei in den nächsten Jahren nicht eine Bevölkerungszahl von achtzig Millionen haben? Achtzig Millionen Türken in Europa – das scheint für manchen eine Horrorvision darzustellen.

Dabei hat die Türkei mit der Gründung der Türkischen Republik 1923 das Kriegsbeil gegenüber Europa begraben. Sie hat sich eindeutig in der westlichen Zivilisation positioniert, und wer die Geschichte der modernen Türkei studiert, wird unschwer erkennen, dass diese Position zu keiner Zeit aufgegeben worden ist. Vielmehr wird sie als der unumstrittene Ausgangspunkt eines Entwicklungsmodells begriffen. Nur wer diese Geschichte nicht kennt, kann überrascht sein, dass ein muslimischer Politiker wie Erdogan sich so vehement für den Beitritt seines Landes in die EU einsetzt.

Dennoch gibt es auch in der Türkei nach wie vor europakritische Meinungen und vor allem Bilder und Fragestellungen, die Ausstrahlungskraft ins Unterbewusstsein haben. Wird Europa Wort halten? Sagt man uns die Wahrheit? Verfolgen die Europäer eigene Ziele, die gegen unsere nationalen Interessen sind? Solche Fragen haben historische Dimensionen. Sie reichen zumindest bis zum Ersten Weltkrieg zurück, als die Zerschlagung und Aufteilung des Osmanischen Reiches von den europäischen Mächten beschlossene Sache war. Hat man damals nicht die christlichen Minderheiten gegen den Sultan angestachelt, um das Reich zu schwächen?

In Europa gab es keine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle als Kolonialmacht: Einen Beweis dafür liefert gegenwärtig Großbritannien mit seinem militärischen Engagement im Irak. In der Türkei (wie in der gesamten islamischen Welt) werden die Dinge freilich anders gesehen. Das historisch gewachsene Misstrauen gegenüber Europa – Bilder eines intriganten, machtbesessenen, nur auf eigene Interessen ausgerichteten Europa – bilden die Basis für politische und religiöse Radikalisierung. Sie sind die tragenden Säule sowohl nationalistischer als auch fundamentalistischer Ideologien und versperren den Blick auf ein demokratisches, auf Aussöhnung und Interessenausgleich gerichtetes Nachkriegseuropa. Nur durch dieses neue Denken nach dem Zweiten Weltkrieg war man in der Lage, die chronischen Konflikte auf dem Kontinent zu entschärfen und zu einer Atmosphäre der Versöhnung zwischen den Völkern zu finden.

Doch gibt es ein solches neues Denken im Hinblick auf die Türkei? Die Türkeifrage hätte zu einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen Fragen führen können und müssen, die das europäische Selbstverständnis betreffen. Doch ist sie von Anfang an leider viel zu selten als eine Friedensvision betrachtet worden – dabei ist sie angesichts der Millionen muslimischer Einwanderer in Europa auch von innenpolitischer Bedeutung. Steht den nächsten Generationen eine Konfrontation bevor? Oder eine versöhnliche Annäherung? Integration kann nur gelingen, wenn bestehende Klüfte nicht noch größer werden. Doch eine Zurückweisung der Türkei mit fadenscheinigen Argumenten wird auch die Türken in Europa ihrer Umgebung entfremden. Sie wird ihre Andersartigkeit festschreiben und einen nur schwer überbrückbaren Graben zwischen Europäern und Türken aufreißen.

Die Türkei, so scheint es, hat die Frage der eigenen Mitgliedschaft längst als einen Beitrag für den Frieden zwischen Religionen und Zivilisationen begriffen. Auch die Regierung Schröder/Fischer scheint das nachvollzogen zu haben. Aber diese Position müsste jenseits parteitaktischer Überlegungen viel offensiver vertreten werden, um mehr Gewicht in der öffentlichen Meinung zu bekommen.

Die Türkeifrage scheint heute eher eine mentale denn eine politische Frage geworden zu sein

Sollte es zu Spannungen zwischen Europa und der Türkei kommen, hat dies nicht nur Auswirkungen auf Zypern. Diese Spannungen werden Ausstrahlungskraft auf die gesamte islamische Welt haben – aber vor allem, und das wird heute kaum gesehen, auf das Verhältnis Europas zu Asien.

Ein Europa ohne die Türkei wird schon in der nächsten Generation gegenüber Asien in der Defensive sein. Sollte die Türkei nicht in Europa eingebunden und fest verankert werden können, droht das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene Machtvakuum zwischen Europa und China noch größer zu werden, als es heute schon der Fall ist, eingerahmt vom schiitischen Gottesstaat Iran und einem autoritär regierten Russland. Das verheißt wenig Gutes für den Weltfrieden und für die Sicherheit Europas. Zunahme von Instabilität und Unfreiheit in den Nachbarregionen können aber nicht im europäischen Interesse sein.

Was heute in den Debatten über die Aufnahme der Türkei unerwähnt bleibt, ist die Tatsache, dass Europa mit der Türkei nicht nur an Krisengebiete im Nahen Osten grenzen wird, sondern auch an die Seidenstraße – an Länder, die schon heute wirtschaftlich und kulturell eng mit der Türkei verknüpft sind. Eine säkulare und demokratische Türkei ist, mehr als für die restliche islamische Welt, vor allem für diese türkischsprachigen Völker ein Orientierungspunkt in Fragen wie Demokratie und gesellschaftliche Entwicklung. Nur mit der Türkei im Boot kann Europa in der nahen Zukunft ein Gegengewicht zu China bilden und somit einen bedeutenden Beitrag für den Weltfrieden leisten. ZAFER ȘENOCAK