: Brodelndes Innenleben
Soziale Realität in China: The Living Dance Studio gastiert mit „Report on Giving Birth“ auf Kampnagel
Vier Kinder habe sie geboren, erzählt eine ältere Frau von der Leinwand herunter. Doch propagiert nicht China seit vielen Jahren die 1-Kind-Familie? Die Geburt dieses einen Kindes, bekennt eine andere Frau, war ihr an Erfahrung genug und windet sich auf einem Stuhl, schlingt die Beine um die Lehne. Ob vor Schmerzen oder Lust lässt sich nicht so leicht ausmachen.
Mit ihrem 1995 entstandenen Stück Report on Giving Birth lädt das Living Dance Studio aus Peking nun zum zweiten Mal auf Kampnagel. Diesmal ist der gesamte Bühnenraum einschließlich der Vorhalle zur Eroberung freigegeben, für Compagnie und Zuschauer. Und für einen Videofilmer, der geschäftig hinter den Akteuren herwuselt, selbst in den entlegensten Winkeln auf der Jagd nach Bildern, die auf die Leinwand gebannt erscheinen.
Munter quatschend sitzen eingangs vier Frauen um einen Tisch, bis ihre Stimmen zu einen eindringlichen Chor werden. Aus dem Inneren des Tisches, den eine der Frauen mit gespreizten Beinen erklimmt, scheint der Schritt glutrot ausgeleuchtet, als gelte es die Mysterien des weiblichen Unterleibes zu ergründen. Doch schnell wird klar: Im Tanztheater der Choreografin Wen Hui geht es nicht um mystische Verklärung sondern radikal und unverblümt um soziale Realität.
Dort scheint in China die Frau spätestens mit der Geburt des ersten Kindes mit einem Schlag gelandet zu sein. In einer Realität, die in einer unaufgeklärten Gesellschaft erst den Zugang zum eigenen Körper öffnet. Anrührend naiv mutet es an, wenn die fünf Tänzerinnen in einer versteckten Ecke aufgereiht wie die Engel zum Abendgebet der Kamera anvertrauen, ihre Mutter habe sie aus der Achselhöhle geboren. Zumindest habe sie das erzählt. „Von Sex hatte ich keine Ahnung“, gesteht die eine – bis sie in die Stadt kam. Dann schleppen die Frauen – heute in einem Alter von 25 bis 43 Jahren – bauschiges Bettzeug über die Bühne wie Kinder auf nächtlichen Streifzügen durch ein schlafendes Haus.
Seit über zehn Jahren macht Wen Hui Tanztheater aus Frauensicht. Der eine Mann, der hier mitspielt, erfüllt bloß eine anonyme Platzhalterfunktion für sein Geschlecht. Den Körper einer Frau, sagt Wen Hui, vergleiche sie mit einem Topf Wasser, der jederzeit überkochen kann. Dieses brodelnde Innenleben versteht sie immer wieder in anmutig fließende Bahnen zu lenken. Poetische Tanzbilder gelingen ihr dabei, die anrührend, mitunter absurd, durchzogen von feinsinnigem Humor, in einem einnehmenden Gegensatz zur nüchternen Realität stehen.
Wie schon in Report on Body verbinden sich die dokumentierten Bilder und Interviews, die live Projektionen und der Tanz zu einem lebendigen, unverschleierten, wenngleich bei uns kaum mehr nachzuvollziehenden, Stück Zeitgeschichte, dessen ästhetische Kraft vor allem in der Offenheit seiner Struktur liegt. Marga Wolff
täglich bis 30.10., 20 Uhr, Kampnagel