: Ein paar politische Makel
Große Debatte in den USA: Der Schriftsteller Philip Roth entwirft in seinem neuen Roman ein faschistisches Amerika. Zeitraum sind dabei die Vierzigerjahre. Die Frage ist, ob es auch als Kommentar zum gegenwärtigen Wahlkampf zu lesen ist
VON SEBASTIAN MOLL
Woody Allen lebt nicht selten auf der Leinwand Fantasien aus, deren Verwirklichung das Leben ihm vorenthält. Wie zum Bespiel diese in dem Film „Annie Hall“ von 1977: Während Allen zusammen mit Partnerin Diane Keaton in einer Kinoschlange steht, salbadert ihm von hinten ein Literaturprofessor lauthals und ohne Unterlass seine Interpretationen des seinerzeit heiß diskutierten Medientheoretikers Marshall McLuhan ins Ohr. Allen kann es nicht mehr ertragen, und um den eitlen Gelehrten zum Schweigen zu bringen, holt er kurzerhand den echten McLuhan aus der Kulisse. Der sagt kurz, aber schneidend: „Sie haben kein Wort von dem verstanden, was ich geschrieben habe.“ Der ungefragte Dozent ist kaltgestellt. Philip Roth, einzelgängerischer New Yorker Jude mit ebenso unzähmbaren sexuellen Obsessionen wie Woody Allen, scheint diese Sequenz aus „Annie Hall“ gut gefallen zu haben. So gut, dass er – wie weiland Allen/McLuhan – quasi sich selbst aus der Kulisse geholt hat, um allerlei vorhersehbarem Geschwätz über sein neues Buch „A Plot Against America“ vorzugreifen.
In dem neuen Buch entwirft Roth die Dystopie, dass Charles Lindbergh, mannhafter Fliegerheld und Verehrer Hitlers, Isolationist und Antisemit, im Jahr 1940 die Präsidentschaftswahl gegen Franklin D. Roosevelt gewinnt und die USA so weit nach rechts rücken, wie sich das bis heute außer Roth kaum jemand auszumalen wagt. Am 19. September, drei Wochen vor dem Erscheinungstermin des Romans, schrieb Philip Roth in der New York Times eine Rezension seines eigenen Buches, mit der er versuchte, es vor der zu erwartenden Inanspruchnahme durch den aktuellen politischen Diskurs in Schutz zu nehmen.
Bevor das Buch das erste Regal eines Barnes and Noble gesehen hatte, setzte Roth es mit dem „Schloss“ und dem „Prozess“ von Kafka gleich, die sich die tschechische Befreiungsbewegung der 60er- und 70er-Jahre als Manifeste angeeignet hatte: „Literatur wird zu allerlei Zwecken missbraucht“, schreibt Roth über Roth, „aber man darf diese Zwecke nicht mit der Realität verwechseln, die ein Autor in einem Kunstwerk in harter Arbeit ins Leben gerufen hat.“ Welchem Missbrauch Roth vorzugreifen sucht, ist klar: „Manche Leser werden diesen Roman als Schlüsselroman für die amerikanische Gegenwart lesen wollen. Das wäre ein Fehler. Ich bin angetreten, um das zu tun, was ich getan habe: die Jahre 1940 bis 1942 zu rekonstruieren. Ich tue nicht so, als wäre ich an diesen Jahren interessiert, sondern ich bin an diesen Jahren interessiert.“ Nichts liegt Roth ferner als die derzeit in der Kunst so modische Politpolemik.
Freilich hat Roths Gebrauchsanweisung für Roth nicht viel genutzt. „Das Buch ist eine nur mühsam kodierte Allegorie auf unsere Zeit. Jedem, der sich angesichts des Aufstiegs der christlichen Rechten in unserer Zeit hilflos fühlt, jagt dieses Buch ein Schauer den Rücken herunter“, schreibt David Gates in der Newsweek. Die Village Voice in New York schreibt: „Die Anspielungen auf das Amerika von George Bush sind unmissverständlich.“ Und die New York Times, dieselbe Zeitung, die Roths Autorezension gedruckt hatte, schreibt: „Roth wagt nicht einen einzigen Seitenblick auf die Ereignisse unserer Zeit. Dennoch – wenn man Roths Landschaft einige Zeit bewohnt und sich die Argumente über den Krieg und den Faschismus angehört hat, beginnt ‚The Plot Against America‘ einem unruhig im Schoß hin und her zu rucken, als wäre ein zweites Buch, eines über unsere Zeit, darin eingeschlossen und poltere gegen die Buchdeckel, um freigelassen zu werden.“
Aber vielleicht tun die Kritiker ja auch gut daran, Roth nicht auf den Leim zu gehen, wenn er sich als einer der ihren ausgibt und ihnen in das Handwerk pfuschen möchte. Denn schließlich ist Roth ein Meister der Maske, seit er vor 35 Jahren die Figur Portnoy erfand. Zeitgleich zu „Portnoys Beschwerden“ veröffentlichte Roth 1969 nämlich das ergänzende Buch „Carnovsky“ , in dem ein Schriftsteller namens Nathan Zuckermann mit der Stigmatisierung in seinem jüdisch-kleinbürgerlichen Umfeld kämpft, nachdem er ein Portnoy-ähnliches Buch voller sexueller Ausschweifungen veröffentlicht hat. Zuckermann – Roths Alter Ego – bleibt uns durch eine Trilogie in den Siebzigerjahren hinweg bis zu Roths letztem Bestseller, „Der menschliche Makel“, erhalten. Aber auch Philip Roth als literarischen Figur begegnen wir vor „The Plot Against America“ schon einmal – in seinem Roman „Operation Shylock“ von 1993, wo der fiktive Philip Roth in den Dienst der Mossad eintritt.
In „A Plot Against America“ ist Philip Roth sieben Jahre alt, genauso alt wie der wahre Philip Roth 1940. Und auch seine Lebensumstände sind authentisch – der Vater, der als Versicherungsagent stolz darauf ist, es als jüdischer Einwohner zu einem bescheidenen kleinbürgerlichen Glück in der New Yorker Vorstadt Weequahic gebracht zu haben; die strenge, aber großherzige Mutter Bess und der ältere Bruder Sandy mit seiner Begabung zum Zeichnen. Und auch die politischen Umstände sind akkurat – der unter den Juden von Weequaic verehrte Präsident Roosevelt, der zum Krieg gegen Nazideutschland drängt, sowie Charles Lindbergh, der Rekordflieger, der von Hermann Göring eine Fliegermedaille überreicht bekam und mit dem Eindruck aus Deutschland zurückkehrte, dass das „Dritte Reich“ das interessanteste Land der Welt sei und Adolf Hitler ein beeindruckender Führer. Und der davor warnte, dass sich Amerika von jüdischen Partikularinteressen in einen Krieg drängen lasse. Nicht einmal die Erwägung der Republikaner, Lindbergh zum Präsidentschaftskandidaten zu machen, ist erfunden.
Die Fiktion beginnt erst mit dem Auftritt von Lindbergh beim republikanischen Wahlkonvent in Philadelphia: Lindbergh schwebt in Führermanier per Flugzeug mitten in der Nacht auf einen im Patt versumpften Parteitag herab und erntet, noch in Fliegerbrille und Lederkappe, Standing Ovations sowie die Nominierung. Mit Lindberghs Wahl zum Präsidenten kurz darauf hebt dann Roths Flugzeug ab: Jüdische Kinder werden zur Amerikanisierung aufs Land verschifft, darunter Philips Bruder Sandy; Ribbentrop tanzt im Weißen Haus und die ersten Pogrome lassen nicht lange auf sich warten. Darin kommt die Mutter des Nachbarjungen Seldon um, dessen Vater bereits angesichts einer unheilbaren Krebserkrankung Selbstmord begangen hatte. Die Roths adoptieren den kleinen Seldon, der das ganze Leid der europäischen Juden zur selben Zeit quasi allein zu ertragen hat.
Joan Acocella vom New Yorker sieht „A Plot Aagainst America“ nicht zuletzt als Versöhnung Philip Roths mit seiner kleinbürgerlich jüdischen Herkunft, gegen die er ein Leben lang rebelliert hatte. Um die Kluft wieder zu schließen und den nun 71-Jährigen heimzubringen, bedarf es allerdings nicht weniger als der Erfindung eines amerikanischen Pogroms. Das gemeinsame Erleben der Verfolgung hat schließlich Juden verschiedenster Couleur noch immer zusammengebracht. Und auf der biografischen Ebene besitzt Acocellas Argument durchaus Plausibilität. Die Frage nach der Wahl des amerikanischen Faschismus als Thema just zum heutigen Zeitpunkt muss dennoch erlaubt sein, zumal der Zusammenhang persönlicher und großer Geschichte nicht erst seit diesem Buch ein zentrales Thema für Roth ist.
In seiner Autorezension zitiert der Kritiker Roth den Schriftsteller Roth wie folgt: „Als Schulkinder haben wir gelernt, das unerbittlich Unvorhersehbare als zwangsläufig zu begreifen und als Geschichte zu studieren. Doch der Terror der Unvorhersehbarkeit ist das, was die so genannte Geschichtswissenschaft bloß verdeckt. Ich habe das Epos in das Desaster zurückverwandelt.“ Wieder einmal entwirft Roth einen Roth, der er hätte sein können – einen Roth, dessen Kindheit nicht allein von bedrückendem Kleinbürgertum, sondern von Angst und Verfolgung geprägt ist. Die Stärke der Erzählung liegt indes in ihrer Plausibilität: Bei Roth gibt es keine epische, von innerer Notwendigkeit vorangetrieben Geschichte – weder amerikanisch-teleologisch noch christlich heilsbringend noch von beidem geprägt. Es gibt nur kleine Zufälle mit großen Wirkungen. Und so drängt uns Roth zumindest diese Frage mit all ihrer Triftigkeit auf: Was, wenn Al Gore die Wahl 2000 gewonnen hätte? Und, schlimmer: Was, wenn Bush noch einmal gewinnt?
Philip Roth: „The Plot Against America“. Houghton Mifflin, New York 2004, 391 Seiten, 26 $