nebensachen aus jerusalem : Tradition versus Moderne oder: Lokalpatriotismus in Israel
Das Schönste an Jerusalem ist der Weg zurück nach Tel Aviv. Ein Satz, der den Jerusalemern schon zu den Ohren herauskommt. Die Tel Aviver hingegen finden ihn immer wieder schön. „Ich liebe Jerusalem“, beharrt Noa, unverblümt stolz darauf, sich als gebürtige Tel Aviverin Zugang zur intellektuellen Elite der israelischen Hauptstadt verschafft zu haben. Ihre neue Heimat sei echter, Tel Aviv demgegenüber nur ein Abklatsch, zu weit weg vom wirklichen Israel, von der Geschichte, den Konflikten – sowohl innerhalb der jüdischen Gesellschaft als auch natürlich mit den Arabern, mit denen man hier Wand an Wand lebt.
Die Kinder des jüdischen Bildungsbürgertums in den Edelwohngegenden Rechavia und dem deutschen Viertel gelten als Crème de la Crème, als diejenigen, die eben die bessere Schulbildung bekommen haben und den Rest aus ihrem zumeist deutschstämmigen Elternhaus mit auf den Weg bekamen.
Und natürlich die, deren Familien seit Generationen im Land lebten und die schon in der alten jüdischen Gemeinschaft, dem Jeschuw, ihre Spuren hinterließen. Da sei doch so viel Tradition, so viel Vergangenheit, wirft die in Jerusalem geborene Tamar ein. Jerusalem ist eben die Stadt der jüdischen Ureinwohner, während in Tel Aviv, der jungen Pilgerstadt, die Nouveau-Israelis wohnen.
„Leben und leben lassen“, predigt der Tel Aviver Nimrod. Die Freunde treffen sich in einem Kibbuz auf halber Strecke zwischen beiden Städten. Im kosmopolitischen Tel Aviv funktioniere das friedliche Nebeneinander. Während in Jerusalem komplette Straßen gesperrt bleiben, um den heiligen Schabbat zu wahren, rennen die frommen Juden in Tel Aviv mit gesenktem Blick vorbei an den auch am Freitagabend geöffneten Straßencafés, in denen sich leicht bekleidete Nachtschwärmer bei wenig gedämpfter Musik ein Bier gönnen.
Hat der Lokalpatriotismus den Nationalstolz ersetzt, in Zeiten, in denen es vom Olympiasieger im Windsurfen abgesehen kaum noch Gründe gibt, sich als Israeli besonders wohl zu fühlen? „Lokalpatriotismus gibt es, seit ich denken kann“, verneint der heute 40-jährige Ex-Kibbuznik Hagai. „Und damals glaubten wir noch, dass es sehr wohl Gründe gibt, stolz auf Israel zu sein.“ Benachbarte Kibbuzzim konkurrierten miteinander, die Kibbuzbewegungen standen sich gegenüber und schließlich der Kibbuz versus die Stadt.
„Du willst ja selbst wieder nach Tel Aviv zurück“, provoziert Nimrod und Noa nickt: „Blutenden Herzens“ und nur eines Mannes wegen. „Eure Elite stirbt aus“, hält er fest. Immer mehr Intellektuelle und Weltliche verlassen die Stadt. Noa wettert gegen die linken Tel Aviver, die auf die Straße gehen und leere Slogans gegen die Besatzung aufsagen, während sich in Jerusalem Gruppen organisieren, die bei jeder Häuserzerstörung dabei sind, um sie zu verhindern, die Hilfspakete in die besetzten Gebiete schicken, „die machen und tun, während in Tel Aviv noch diskutiert wird“.
Tamar nickt zustimmend und nimmt mich dann kurze Zeit später zur Seite: „Sag mal, habt Ihr hier im Kibbuz noch eine Wohnung frei?“ Und was ist mit Geschichte und Tradition?, frage ich. „Eben deshalb“, sagt sie.
SUSANNE KNAUL