piwik no script img

Archiv-Artikel

Das Orakel als Star

Auf der Suche nach Originalität schreckte der Philosoph auch nicht vor Fehllektüre zurück

Über die Toten soll man nur Gutes sagen, aber hier wird es nicht um den Menschen Jacques Derrida gehen, sondern um die öffentliche Figur des Philosophen Derrida und seinen immensen Einfluss. Wer in den 90er-Jahren Geisteswissenschaften studierte, konnte dem Philosophen Jacques Derrida und der „Dekonstruktion“ kaum entkommen. An der Uni lief „Die Schrift und die Differenz“ und im Kino Woody Allens „Deconstructing Harry“. Wer ebenso prätentiös wie peinlichkeitsresistent war, leitete seine Wortmeldungen im Seminar mit: „Lasst mich diese Debatte mal ein bisschen dekonstruieren“ ein.

Merkwürdig dass heute vor allem die Offenheit eines Denkens gelobt wird, das im Seminaralltag zu einer Atmosphäre führte, die an Erzählungen über die Siebzigerjahre erinnern ließ: Ohne die Politik, aber mit genauso viel Ignoranz und Dogmatismus. Dass Foucault dies dort geschrieben und Derrida dies dort gesagt habe, ersetzte – zum Teil aggressiv – die Regeln herkömmlicher Argumentation. Dabei sind die Texte Derridas manchmal komplex, immer kompliziert, häufig raunend. Sie scheinen sich, auf den ersten Blick, zu einer identifikatorischen Lektüre nicht eben zu eignen.

Wie wird ein Orakel zu einem akademischen Star, zu einem so Verehrungswürdigen, dass der Film „Derrida“ aus dem letzten Jahr sogar noch seinen Friseurbesuch als zu dokumentierendes Ereignis begreift? Eine Antwort darauf ist, beides nicht als Widerspruch zu betrachten, sondern als Komplementärphänomen. In Überlegungen zu der Derrida-Schülerin Judith Butler schreibt die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum: „Einige Strömungen der kontinentalen Tradition der Philosophie haben die unglückliche Tendenz, den Philosophen eher als einen Star zu betrachten, der fasziniert, und zwar häufig durch Unverständlichkeit, als einen Argumentierenden unter gleichen. Wenn Ideen klar geäußert werden, können sie schließlich von ihrem Autor getrennt werden, man kann sie nehmen und auf eigene Faust weiterverfolgen. Wenn sie geheimnisvoll bleiben – wenn sie tatsächlich nicht einmal deutlich benannt werden –, bleibt man abhängig von der ursprünglichen Autorität. Der Denker wird nur für sein schwülstiges Charisma beachtet. Man wartet gespannt, begierig auf seinen nächsten Zug.“

Niemand beherrschte dieses Spiel so gut wie Derrida. Um einen originellen Punkt zu machen, schreckte der französische Philosoph weder vor „radikalen“ Thesen à la „Atomraketen sind auch nur ein Text“ zurück – später als „strategische Wahrheit“ bezeichnet, die „zu einem bestimmten Zeitpunkt“ ihre Berechtigung gehabt habe –, noch vor forcierten Fehllektüren. Nicht nur John R. Searle bezweifelte daher Derridas philosophische Redlichkeit. In einer Auseinandersetzung über die Sprechakttheorie gab er enerviert zu Protokoll, Derrida habe eine Besorgnis erregende Neigung dazu, Dinge zu sagen, die offenkundig falsch seien.

Für angloamerikanische Philosophen ging von Derridas Denken zunächst einmal eine disziplinäre Gefahr aus: das Verschwimmen der Philosophie in Sophistik und Rhetorik. Anders in Deutschland, wo frühe Kritiker wie Jürgen Habermas und Manfred Frank in einem neuen Irrationalismus vor allem eine politische Gefahr sahen. In den letzten Jahren machten Habermas und Derrida aber ihren Frieden. Eine Annäherung, die weniger auf philosophischen Motiven beruhte – dort hatte sich ja seit der anfänglichen vehementen Ablehnung wenig geändert, als vielmehr auf politischen: einem vage geteilten Linksliberalismus, einem Schulterschluss gegen Amerika und einer Überschätzung der Moral der europäischen Regierungen und Bevölkerungen.

Derrida war ein Künstler darin, Texte gegen den Strich zu lesen, von einem marginal erscheinenden Textstück aus: einer Fußnote, einer Bemerkung in einer Klammer. Es scheint daher angemessen, mit einem Zitat aus einem marginalen Text Derridas zu enden, der zu seinen schönsten gehört. Es ist die Widmung, die Derrida „Marx Gespenster“ vorangestellt hat. Sie gilt Chris Hani, dem südafrikanischen Antiapartheidskämpfer und Kommunisten, der kurze Zeit vor der Entstehung des Textes ermordet worden war. In dieser Widmung heißt es: „Das Leben eines Menschen, so einzigartig wie sein Tod, wird immer mehr als ein Paradigma sein und immer etwas anderes als ein Symbol. Und es ist dieses selbst, was ein Eigenname immer nennen sollte.“ MARCO STAHLHUT