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Archiv-Artikel

Das Rote Kreuz wird Anschlagsziel

In Bagdad fordert ein Selbstmordattentat auf das Gebäude der Hilfsorganisation zahlreiche Opfer. Ein Abzug der Hilfswerke hätte dramatische Folgen für den Irak. Sie kümmern sich um die Wasserversorgung, Schulen und Krankenhäuser

Wir stellen die meisten Toten und verlieren die internationale Hilfe

aus Bagdad KARIM EL-GAWHARY

„Möge Gott Rache nehmen und Saddam eines Tages in der Hölle schmoren lassen“, schreit der alte Adnan al-Chafadschi vor dem Gebäude des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) in Bagdad. Sein Sohn Ali arbeitet als Ingenieur beim Roten Kreuz, und Adnan hat keine Ahnung, ob er lebt oder von der Bombe zerrissen wurde, die eine halbe Stunde zuvor direkt vor dem Hauptquartier der internationalen Organisation hochgegangen ist und die Fenster im Umkreis von hunderten Metern splittern ließ. „Ich bin es leid, von Krieg zu Krieg zu leben“, sagt Adnan.

Im Hintergrund brennen ein Öltank und zwei Autos, eines davon der Wagen, den der Selbstmordattentäter vor das Gebäude gefahren hat. Krankenwagen und Feuerwehrautos versuchen, sich einen Weg zu bahnen, beobachtet von zwei US-Kampfhubschraubern, die über der Szene kreisen. Es gibt niemanden zu verfolgen, der Täter hat sich selbst in die Luft gejagt.

Vollkommen überforderte US-Soldaten und irakische Polizisten versuchen, Schaulustige und verzweifelte Verwandte zurückzuhalten. Da bekommen die irakischen Polizisten über ihre Funkgeräte die Nachricht, dass mehrere ihrer Polizeistationen ebenfalls Ziele von Anschlägen waren. Zusammen mit den Toten im Gebäude des Roten Kreuzes werden irakische Polizisten am Ende dieses blutigen Morgens den größten Teil der 34 Todesopfer stellen.

Doch im Moment haben sie keine Zeit, diese Nachricht zu verdauen. Stattdessen versuchen sie, Nawal Saar zu beruhigen, die mit ihren beiden Kindern gekommen ist. „Da drinnen ist der Vater meiner Kinder, was sollen wir tun, wenn er nicht mehr lebt“, murmelt sie vor sich hin.

Kurz darauf, eine halbe Stunde vom Anschlagsort entfernt, im Büro der deutschen Hilfsorganisation „Architekten für Menschen in Not“ (APN): Die beiden Organisatoren Alexander Christoff und Andrea Hilger starren fassungslos auf ihren Fernseher und versuchen zu begreifen, was der Angriff auf das IKRK für ihre Arbeit bedeutet. „Die Evakuierungspläne sind fertig. Wenn eine andere Hilfsorganisation angegriffen wird, werden wir über unsere Funkgeräte innerhalb von 15 Minuten informiert. Dann müssen wir eine Entscheidung treffen“, sagt Christoff. Eine Entscheidung, die für die Arbeit große Konsequenzen hätte. Die nicht unbedingt notwendigen Mitarbeiter würden nach Hause geschickt, die Projekte eingefroren, diejenigen, die dablieben, dürften sich nicht mehr in der Stadt bewegen, und auch bei lokalen Mitarbeitern hätte man Angst, dass sie verfolgt würden.

Drohungen hat die Organisation bereits erhalten. Bei einem Wasserprojekt in Bagdadi in der Nähe der syrischen Grenzen waren vor einem Monat vier Vermummte mit Kalaschnikows erschienen und drohten, die fast fertige Pumpstation in die Luft zu jagen. Später stellte sich heraus, dass sie das „A“ für „Architekten“ im Namen der Organisation für eine Abkürzung für „amerikanisch“ gehalten hatten. APN ließ Flugblätter an Stammesälteste und Imame in den Moscheen verteilen. Beim nächsten Freitagsgebet wurde das Missverständnis aufgeklärt.

Vom Schutz der US-Truppen wollen Christoff und Hilger nichts wissen. „Wir halten uns so weit wie möglich von ihnen fern und wollen keinesfalls mit ihnen assoziiert werden. Sie sind eine Zielscheibe, und wenn sie uns nahe kommen, werden wir selbst zur Zielscheibe“, sagt Hilger.

Wenn die Hilforganisationen aufgrund des zu hohen Risikos tatsächlich ihre Zelte im Irak abbrechen würden, hätte das katastrophale Folgen. „Es gibt niemanden, der ihre Arbeit ersetzt - die US-Armee kann das ganz bestimmt nicht leisten“, sagt Hilger.

Es sind die über fünfzig im Land arbeitenden Hilfsorganisationen, die heute Schulen, Kranken- und Waisenhäuser versorgen und neu aufbauen. Falls das Rote Kreuz sich herausziehen würde, hätte das dramatischere Folgen als die Zurückberufung des größten Teils der UN-Mitarbeiter nach dem Anschlag auf deren Hauptquartier im August.

Am Ende, sagt eine Frau vor dem IKRK-Gebäude, „sind es die Iraker, die den Preis bezahlen. Wir stellen die meisten Toten und wir verlieren die internationale Hilfe.“

Über eine Stunde nach dem Anschlag tritt ein irakischer Polizist vor den Stacheldraht, mit dem die Straße vor dem IKRK-Gebäude abgesperrt ist, und zieht ein paar zerknitterte handbeschriebene Zettel aus seiner Hosentasche. Darauf hat er die Namen jener notiert, die er drinnen lebend angetroffen hat. Im Nu ist er von Verwandten umringt, die ihm Namen zurufen. Nawal Saar erfährt, dass der Vater ihrer beiden Kinder in der Cafeteria sitzt. Ihre Tränen versiegen, und sie drückt die Kinder fest an sich. Auch Adnan al-Chafadschis Sohn hat überlebt. Der alte Mann, der versucht hatte, sich zusammenzunehmen, bricht in Tränen der Erleichterung aus. Für einen anderen Mann, der nach seinem Bruder fragt, hat der Polizist noch keine Nachricht. Er steht nicht auf seiner Liste. „Inschallah (so Gott will), ist dein Bruder in Ordnung“, sagt der Polizist und tätschelt den Mann beruhigend auf die Wange. „Was soll ich mit diesem Inschallah anfangen“, schreit dieser. Der Polizist weiß keine Antwort. Er dreht sich um und geht wieder zurück zum Gebäude, auf der Suche nach weiteren Namen, die er hoffentlich noch auf seine zerknitterten Zettel notieren kann.