Warten auf Abba

Nicht mehr und noch nicht: Julia Franck erzählt in ihrem Roman „Lagerfeuer“ die Geschichter vierer Menschen, die sich Ende der Siebzigerjahre im Notaufnahmelager Marienfelde begegnen

von SUSANNE MESSMER

Das Baby der Nachbarn schreit. Hans Pischke flüchtet sich aufs Klo und stellt fest, dass der Riegel an der Toilettentür abmontiert worden ist. Um nicht die Nerven zu verlieren, bekommt er diese zoomende Wahrnehmung. Er fixiert die Schraubenlöcher, die noch voller winziger heller Späne sind. Und er horcht auf das leise Rauschen im Toilettenrohr.

Wie Hans Pischke auf die Anfechtungen seiner Umwelt reagiert, das ist typisch für die Figuren in Julia Francks drittem Roman „Lagerfeuer“, in dem sie die Geschichten zweier Flüchtlinge aus der DDR, einer Polin und eines amerikanischen Geheimdienstlers erzählt, deren Wege sich in den späten Siebzigerjahren im Notaufnahmelager Marienfelde kreuzen. Es ist, als hätten sie ihre Substanz verloren in dieser Situation des Nichtmehr und Nochnicht, in dem kein Osten mehr sein soll und noch kein Westen sein kann, bei diesem Warten auf den Neuanfang, aus dem vielleicht nichts wird. Sie sind wie aus dem Raum und der Zeit gekippt und wenn es ihnen immer wieder an den Kragen geht, wenn sie nicht wissen, wie weiter, dann entziehen sie sich noch ein Stück mehr, verschieben das Gefühl, das gerade dran wäre, auf ein andermal, konzentrieren sich auf ein Detail, auf den Geruch eines Bodenbelags, auf den Schraubdeckel einer Colaflasche. Mit „Lagerfeuer“ nimmt Julia Franck eine neue Geschichtsträchtigkeit auf, die zur Zeit viele ihrer schreibenden Altersgenossen betreiben. Und siehe da: Plötzlich, da sie in Zeiten zunehmender Ostalgie ein schweres Thema anfasst, ein ernstes Stück autobiografisch gefärbte Prosa über eine Zeit, die sie selbst erlebt hat, als sie mit ihrer Mutter und ihren Schwestern 1978 aus der DDR ausreiste und ein Dreivierteljahr im Lager in Marienfelde lebte, da hat Julia Franck auf einmal „etwas zu erzählen“.

Nur schade, dass dabei etwas Entscheidendes untergeht: Das Spezielle an Julia Francks Büchern ist weder die Darstellung des Alltags Dreißigjähriger in der Hauptstadt – dafür wurde sie bei Erscheinen ihres Roman „Liebediener“ im Jahr 1999 zum „Fräuleinwunder“ gekürt – noch neuerdings die gewissenhafte Vergangenheitsbewältigung. Das Interessante bei ihr sind die rätselhaften Figuren, die ins Schwimmen geraten sind und sich nicht zu einem schlüssigen Ganzen verfugen lassen.

Da ist zum ersten Nelly Senff. Schon in der DDR durfte sie nicht mehr ihren Beruf ausüben. Zunächst scheint es so, als habe sie die DDR trotzdem nur aus privaten Gründen verlassen, um nicht mehr an jeder Straßenecke Ostberlins an den toten Vater ihrer Kinder erinnert zu werden. Dann kommt in einem Verhör mit John Bird, dem amerikanischen Geheimdienstler, der sich in sie verlieben wird, heraus: Nelly ist sich nicht sicher, ob er wirklich Selbstmord begangen hat oder ob er vielleicht umgebracht worden ist. Was geht in ihr vor? Sie scheint es selbst nicht zu wissen. Immer, wenn es ernst wird, schweifen ihre Gedanken ab. Dass sie aus der Sicht der anderen mal als begehrenswertes Mädchen, mal als stolze Unberührbare erscheint, macht die Sache auch nicht einfacher.

Dann natürlich dieser Hans Pischke, der anfangs als unsympathischer Zwangsneurotiker erscheint, weil er sich über jeden Krümel aufregt, den die Nachbarn auf dem Küchentisch hinterlassen haben, sich dann aber immer schillernder entwickelt. In der DDR war er Schauspieler und musste nur ins Gefängnis, weil er die blöde Idee hatte, eine Leninbüste rot anzumalen. Nun hat er seit dreizehn Monaten das Lager nicht mehr verlassen und lehnt jedes Jobangebot ab. Warum er eigentlich in den Westen wollte, fällt ihm schon lang nicht mehr ein. Nelly Senff erscheint er als sensibler Held. Für die anderen ist er ein schwarzes Schaf, an dem man sich prima auslassen kassen.

Es ist diese Technik des Verwischens und der Verunsicherung, die Julia Francks Roman so einschlagen lässt. Die Stellen, in denen es darum geht, Geschichte in den Roman zu holen, fallen hinter diese Technik zurück. Da wirken die Figuren regelrecht konstruiert– dass die Idee des Kommunismus nichts mit dem real existierenden Sozialismus zu tun hatte, dass es sich beim Kommunismus um einen Ersatz von Religion handelte, muss auf einmal Nelly Senff denken. Dass man sich als Verräter fühlt, der den Osten verlassen hat, anstatt „vor Ort und Stelle“ zu kämpfen, muss ein andermal Hans Pischke sagen. Andererseits: Wirken diese tausendfach gehörten Plattitüden nicht auch ein wenig wie die wenigen Signale aus dem Westen, die Julia Franck ins Lager durchdringen lässt, wie die Tüte von Beate Uhse und der Instantkaffee? Beinahe scheint es, als dienten all diese Klischees auch nur zur Distanzierung, zur Verfremdung – als ginge es darum, Nelly Senff und Hans Pischke noch ein Stück weiter von sich zu entfernen, wenn sie den Westen nicht fassen können und wenn sie von Freiheit sprechen und von Verrat. Man kann sie sich ja auch schwer vorstellen, diese Freiheit, an diesem Ort, „mit einer Mauer drumherum, in einer Stadt mit einer Mauer drumherum mitten in einem Land mit einer Mauer drumherum“.

Julia Franck: „Lagerfeuer“. Dumont Verlag, Köln 2003, 301 Seiten, 19,90 €