„Die Verbindung ist nie abgerissen“

Petra Rosenberg

„Ich habe meinen Vater immer sehr bewundert und mich sehr stark an ihm orientiert. Menschlich, später auch politisch. Wenn es heute gilt, Entscheidungen zu treffen, dann suche ich den geistigen Dialog mit ihm“„Mein Vater hätte auch gern studiert. Als ich die Diplomarbeit schrieb, war er schon schwer krank. Erst jetzt weiß ich, ich habe es für ihn gemacht. Um quasi wiedergutzumachen, was die Nazis verbrochen haben“

„Typisch Zigeunerin“, diese Anfeindung hat sie häufig gehört. Petra Rosenberg wollte es allen zeigen: Sie machte den Schulabschluss und das Abitur nach, mit 30 begann sie ein Studium. Auch damit ihr Vater stolz auf sie ist. Otto Rosenberg, der als Einziger von elf Geschwistern Auschwitz überlebte, hat zeit seines Lebens für die Rechte der Sinti und Roma gekämpft. Zunächst war die älteste Tochter seine rechte Hand, später übernahm sie den Landesverband. Und führt die Arbeit in seinem Sinne fort. Wie vieles in ihrem Leben. Heute Abend eröffnet die 52-Jährige im Ungarischen Kulturinstitut eine Ausstellung des „Berliner Festivals Europäischer Sinti und Roma“

INTERVIEW PLUTONIA PLARRE
UND UWE RADA

taz: Frau Rosenberg, wann immer Sie öffentlich auftreten, reden Sie lieber von Ihrer Arbeit als von sich selbst. Warum ist das so?

Petra Rosenberg: Ich bin nicht der Mensch, der sich in den Vordergrund stellt. Mein Vater war zeit seines Lebens ein sehr präsenter, aber auch ein sehr bescheidener Mensch. Er nahm sich lieber zurück anstatt sich nach vorn zu drängen. Ich denke, das ist etwas, was ich auch in meiner Erziehung erfahren habe. In unserer Familie gab es niemanden, der sich herausgestellt hat. Selbst meine Schwester …

Marianne Rosenberg …

Ja, die durch ihren Beruf als Sängerin sehr bekannt wurde, hat sich ebenfalls nie in den Vordergrund gedrängt. Sie nahm auch nie eine Sonderposition innerhalb der Familie ein. Von daher liegt es mir fern, mich als Person in den Vordergrund zu stellen. Viel wichtiger ist mir, die Probleme, mit denen sich Sinti und Roma hier in Deutschland und speziell in Berlin und Brandenburg konfrontiert sehen, aufzuzeigen und diese anzugehen.

Im Januar diesen Jahres haben Sie es dennoch getan, als Sie im Abgeordnetenhaus aus der Biografie Ihres Vaters vorgelesen haben.

Auch nach dem Tod meines Vaters ist die Verbindung zu ihm nie abgerissen. Wenn es gilt, Entscheidungen zu treffen, dann suche ich den geistigen Dialog zu meinem Vater. Wir haben in den letzten Jahren sehr eng zusammengearbeitet. Für die Lesung im Abgeordnetenhaus musste ich mich gut vorbereiten, um zu verhindern, nicht in Tränen auszubrechen. Es war die erste öffentlich Lesung aus dem Buch meines Vaters. So war der gemeinsame Auftritt mit meiner Schwester Marianne im Sinne seiner politischen Arbeit. Er wäre stolz auf uns gewesen.

Sie waren seine rechte Hand.

Ja, und in dieser Zeit habe ich meinen Vater nicht nur als Vater, sondern auch als Zeitzeugen erlebt; und in den Gesprächen, die er beispielsweise mit Schülern führte, Dinge aus seinem Leben im Konzentrationslager erfahren, von denen ich bis dahin nichts wusste. Ich habe es ja nie gewagt, meinen Vater direkt zu fragen: Tata, wie war das denn damals im Lager? Ich wollte meinen Vater nicht verletzen.

Wann haben Sie angefangen mit ihm zu reden? In der Verbandsarbeit?

Nie. Mein Vater hat erzählt, und was er erzählt hat, haben wir Kinder angenommen.

Sie haben nicht nachgefragt?

Nein. Eines konnte man sich sicher sein: Was mein Vater sagte, entsprach immer der Wahrheit. Mein Vater bauschte Dinge nie auf, ganz im Gegenteil, er schwächte sie eher ab. Er erzählte nie von Grausamkeiten im Einzelnen. Natürlich, grausam hörte es sich an, wenn er sagte: Meine Geschwister sind in Auschwitz ermordet worden; oder er wurde mal in den Stehbunker eingesperrt. Aber davon habe ich eher gehört, wenn er mit den Schülern sprach.

Als er seine Lebensgeschichte geschrieben hat, sind Sie auch nicht miteinander ins Gespräch gekommen?

Nein. Er wollte seine Autobiografie eigentlich nicht niederschreiben. Aber es ist ihm immer wieder nahe gelegt worden: Schreib doch deine Erinnerungen auf. Und mein Vater fragte: Was ist denn daran so interessant? Lass mal sein. Er wollte das eigentlich nicht. Erst auf Drängen einiger Leute erklärte er sich dann doch bereit.

Marianne und Ulrich Enzensberger.

Genau. Marianne Enzensberger ist mit meiner Schwester und mir befreundet. Über diese Verbindung ist es dann dazu gekommen, dass Ulrich Enzensberger Aufzeichnungen mit meinem Vater machte. Er sprach seine Geschichte auf ein Tonband und folgte damit der bei uns Sinti üblichen Erzählkunst.

Die mündliche Überlieferung?

Genau, wir merken uns sehr, sehr viel anstatt es aufzuschreiben. Wir erzählen uns immer wieder dieselben Familiengeschichten und können teilweise wortwörtlich wiedergeben, was jemand vor zwanzig Jahren gesagt hat. Das ist eine alte und schöne Tradition.

Ihr Vater hat Sie sehr geprägt. Was ist mit Ihrer Mutter? Mussten Sie sehr früh Verantwortung übernehmen?

Ich habe mich zeit meines Lebens an meinem Vater orientiert. Meine Mutter lebt noch. Sie kommt über den Tod meines Vaters nur sehr schwer hinweg. Meine Eltern waren fast 50 Jahre miteinander verheiratet. Sie ist in ihrem Wesen immer sehr fein und zurückhaltend gewesen. Aber auch ein Mensch mit viel Kraft. Schließlich war sie es, die mit meinem Vater, der als einziger von elf Geschwistern überlebte, nach Auschwitz eine Familie gründete. In seinem Buch sagt mein Vater: Sie war in meinem Leben immer der ausgleichende Pol. Was mir andere Böses angetan hatten, das hat sie mir Gutes getan. Ich bin die Älteste von sieben Geschwistern und musste sehr früh Verantwortung übernehmen. Das war nicht immer ganz einfach für mich, es brachte mich aber auch in die Position der Anführerin.

Ist ihre Mutter auch Sintiza?

Nein.

Wie kam es, dass Ihr Vater so eine Rolle in Ihrem Leben spielt?

Ich spielte als seine erstgeborene Tochter nach all dem entsetzlichen und unendlichen Leid, das mein Vater erfahren hatte, ja ebenfalls eine wichtige Rolle in seinem Leben. Mein Vater nannte mich manchmal „mein großes Mädel“. Dann wusste ich, dass er sehr stolz auf mich war. Ich habe meinen Vater immer sehr bewundert und mich menschlich und später auch politisch sehr stark an ihm orientiert.

Ihre Geschwister auch?

Diese Frage kann ich nicht eindeutig mit ja oder nein beantworten. Bezeichnend ist jedoch, dass, wenn ich als älteste Schwester meine Geschwister mal etwas zurechtweise, sie Ottilie zu mir sagen. Mein Vater hieß Otto. Ottilie, wir wissen Bescheid, so heißt es dann.

Sie haben also Ihren Geschwistern gegenüber die Rolle Ihres Vaters übernommen?

Nein, aber ich halte es für wichtig, dass wir als Geschwister zusammenhalten und ich meine Geschwister immer wieder zusammenbringe. Meine Schwester und ich, wir sehen uns ständig.

Marianne.

Ja. Wir sind ganz eng miteinander aufgewachsen. Wenn man so viele Geschwister hat, hat man nicht so viel Zeit, Freundinnen zu haben. Und wenn, dann wurde ich auch enttäuscht, dann bekam ich so seltsame Hinweise, wie: typisch Zigeunerin, oder ähnliche Geschichten. Das zeigte mir dann auch, mein Vater hatte Recht. Man kann sich nur auf die Geschwister verlassen.

Das klingt sehr defensiv. Kann man mit solchen Dingen nicht auch selbstbewusster umgehen?

Im Alter von elf Jahren konnte ich nicht offensiv damit umgehen. Als Kind ist man diesen Anfeindungen in der Schule ausgeliefert. Die Diskriminierung erfuhr ich ja nicht nur von Seiten meiner Mitschüler, sondern auch von Lehrern. Manchmal wünschte ich mir, unsichtbar zu sein.

Sie haben den Schulabschluss nachgemacht, das Abitur, mit 30 zu studieren begonnen. Einmal haben Sie gesagt, Sie hätten das auch für Ihren Vater gemacht. Hat Ihr Vater denn auch zeigen können, dass er stolz auf Sie ist?

Ja, mein Vater war sehr stolz auf mich. Er hätte auch gern studiert, aber das blieb ihm versagt. Dass ich das für meinen Vater gemacht habe, dessen war ich mir lange Zeit nicht bewusst. Als ich die Diplomarbeit schrieb, war er schon schwer krank. Ich hatte immer das Gefühl, gegen die Zeit anzuschreiben. Mein Vater hat den Abschluss der Arbeit nicht mehr erlebt. Erst jetzt weiß ich, ich habe es für ihn gemacht. Um quasi wieder gutzumachen, was die Nazis an ihm verbrochen hatten.

Heißt das, Sie waren ihm etwas schuldig? Wo blieben Sie denn selbst?

Die Nazis blieben meinem Vater etwas schuldig. Mir als Tochter tat das leid und ich wollte das wieder gutmachen.

Haben Sie manchmal das Gefühl, auch etwas ganz anderes machen zu wollen? Haben Sie einen Traum?

Ich möchte auf jeden Fall wieder wissenschaftlich arbeiten. Das heißt, auch meine begonnene Promotion abzuschließen. Vor einem Jahr hatte ich an der TU Berlin eine Stelle als Gastdozentin, davor an der FU. Die Studenten waren äußerst interessiert. In meinen Seminaren wurden sie von mir als einer authentischen Person an das Thema Sinti und Roma herangeführt.

Ist Berlin ein guter Ort für Sinti und Roma?

Das kann ich nur schwer beantworten. Ich habe nie woanders gelebt. Berlin ist meine Geburtsstadt, Deutschland mein Geburtsland. Aber die Stimmung in der Stadt nach Öffnung der Grenzen hat sich vor allem gegenüber Minderheiten verschlechtert. Man tritt ihnen wesentlich intoleranter gegenüber. Beispielsweise bei der Wohnungssuche wird ihnen teilweise ganz ungeniert gesagt, dass sie nicht in das gängige Mieterbild passen. Man hört immer öfter: Das sind Zigeuner, die wollen wir hier nicht. Hinzu kommt, dass unsere Minderheit von zugewanderten Minderheiten Diskriminierung in Form von Ausgrenzung und Beschimpfung erfährt.

Türken?

Ja, unter anderem. Wenn ich diese Thema anspreche, sagen die Leute immer: Frau Rosenberg, seien Sie vorsichtig. Sie gehören doch selbst einer Minderheit an. Dann antworte ich: Warum solle ich das nicht sagen? Das ist eine Tatsache. Dies betrifft im besonderen Maße unsere Kinder und Jugendlichen in den Schulen, die aus Angst vor Beschimpfung teilweise ihre Identität verleugnen. Hier tritt ein Phänomen in Erscheinung, von dem Sinti und Roma europaweit betroffen sind, obwohl sie zum Teil seit Jahrhunderten in ihren jeweiligen Heimatländern leben und die jeweilige Staatsbürgerschaft besitzen.

Es gibt diese Umfrage, aus der geht hervor, dass zwei von drei Deutschen keine Sinti und Roma als Nachbarn haben wollten. Empfinden Sie das auch so, ist die Mehrheitsgesellschaft mehrheitlich ablehnend?

Wissen Sie, ich frage mich, was man mit derartigen Umfragen eigentlich erreichen möchte. Sie kosten Geld und verhindern eher die Integration. Die Verlautbarung eines derartigen Ergebnisses schafft nur noch mehr Vorbehalte, vor allem aber schürt es die Angst und das Misstrauen gegenüber Sinti und Roma. Nach dem Motto: Diese Einstellung kommt nicht von nirgendwo her, da muss was dran sein. Gleichzeitig werden wir wieder einmal in die Position der Opferrolle gezwungen. Derjenige, der diese Studie in Auftrag gegeben hat, sollte gleichzeitig Gelder für eine umfangreiche Aufklärungs- beziehungsweise Öffentlichkeitsarbeit zu diesem Thema zur Verfügung stellen.

Es gab nach 1945 eine Aufarbeitung des Antisemitismus, aber keine des Antiziganismus?

Richtig, jedenfalls nicht in dem Maße, wie sie hätte erfolgen müssen. Ebenso war der Völkermord an den Sinti und Roma lange Zeit nach 1945 nicht im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit vorhanden und wurde erst 1982 durch die Bundesregierung anerkannt. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma Ende der 70er-Jahre fand von unserer Seite eine zunehmende Aufarbeitung dieses Themas statt. Solange die gängigen Zigeunerbilder mit der Lebenswirklichkeit der Sinti und Roma gleichgesetzt werden, gilt es noch viel aufzuarbeiten.