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Archiv-Artikel

Die gefräßige Gegenwart

Ein Konvent der Berliner Volksbühne diskutierte die vielfältigen Probleme der globalen Weltordnung im Vorfeld der US-Wahlen und erprobte dabei die Theorien von Antonio Negri und Michael Hardt

VON JAN-HENDRIK WULF

Schöne postmoderne Welt an der Costa del Sol: In Tarifa kreuzen sich die Migrationsströme des Massentourismus mit denen der Armutsflüchtlinge aus Afrika. Arbeitssuchende Boatpeople treffen auf Surfer. So die Eindrücke des Kölner Psychologen und Publizisten Mark Terkessidis aus dem spanischen Urlaubsparadies. Was er hier vorgefunden habe, sei eine Zone der totalen Mobilmachung von Menschen, Kapital und Landschaft, mit eigentümlichen Folgen auf sein Selbst: „Man gerät in ein seltsames Gefühl von Vergessenheit. Alles ist gefräßige Gegenwart.“

Wer sich gedanklich an die Costa del Sol versetzt, hat vielleicht auch schon verstanden, wie Kapitalismuskritik und Amüsement zusammenpassen könnten. Denn unter dem Motto „Live and Let Die. USA, globale Weltordnung, Multitude und Mittelmeer-Schaumparty“ ging es am Wochenende auf einem Konvent der Berliner Volksbühne um die Verteidigung von Humanismus, Glück und Freiheit. In Vorträgen, Workshops und einer Podiumsdiskussion sollte der prekären weltpolitischen Lage im Vorfeld der US-Wahlen nachgegangen werden. Erprobt wurden dabei auch die theoretischen Pfade von Antonio Negri und Michael Hardt.

„Wie kann der Ansatz von Negri als Werkzeugkiste für eine Neukonstituierung der Linken benutzt werden?“, fragte die Wiener Kulturkritikerin Tania Martini. Sie begrüßte, dass „Hardt und Negri das traditionelle Begriffsmaterial der Linken vom etatistischen Ballast befreit haben“. Doch was genau ist Multitude? Für Negri ist das ein Widerstand gegen Ausbeutung, der in globalen Netzwerken entsteht „wie ein Bienenschwarm, der sich verteilt und wieder zusammenfindet“. Doch lässt sich der Bienenschwarm empirisch erden? Tobias Rapp, Popkulturredakteur von der taz, blieb da skeptisch: „So viel Krieg und Sozialabbau – da findet man sich so oft in unfreiwilligem Schulterschluss mit Leuten, mit denen man nichts zu tun haben will.“ Prekär wird das schon, wenn man die Montagsdemos als praktisches Beispiel für die Multitude heranzieht. Für Tania Martini zeigt sich darin nur der altbackene „Rekurs auf den fordistischen Kompromiss der Siebzigerjahre“. Abhängige Lohnarbeit werde hier als Bedingung für die eigene Existenz verstanden. Rapp aber versuchte, die Terminologie von Hardt und Negri vor einem zu hohen Anspruch an empirische Überprüfbarkeit zu retten. „Empire“ sei eben ein Manifest und solle prophetisch wirken: „Die Multitude gibt es in dem Augenblick, wo sie begreift, dass es sie gibt.“ Rapp räumte ein, dass das durchaus etwas Voluntaristisches habe. Aber: „Vielleicht ist es gut, dass der Hype vorbei ist. Die Begriffe sind da, jetzt muss man sehen, was damit anzustellen ist.“

Davon war in den weiteren Veranstaltungen kaum etwas zu bemerken. Ohnehin wollte der von den Veranstaltern beschworene „jakobinische Geist“ in der Volksbühne nicht recht aufkommen. Doch woran lag das? Womöglich bietet sich dem globalisierten Blick in der Welt so viel Prekäres, dass eher noch der altvertraute Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit zu einer vergangenen Utopie avanciert.

Mitveranstalter Andreas Fanizadeh gab sich konziliant: „Eine humanistische Linke wird eine bürgerliche Demokratie gegen rechts verteidigen.“ Faute de mieux, denn, so Fanizadeh, auch in der Weltpolitik „zeichnet sich keine emanzipatorische Alternative ab“.

Das erklärte auch die Stadtsoziologin Saskia Sassen in ihrem Vortrag „Angst und Tarnung“: „Ich habe Probleme mit der Kategorie der Multitude, sie ist dort draußen, aber ich kriege sie nicht zu fassen.“ Die von ihr beschriebene Krise betrifft weniger den klassischen Nationalstaat als Ganzes als vielmehr nur die eine Machtsäule der legislativen Gewalt. Denn in einer deregulierten, privatisierten Ökonomie verliert die Legislative ihren gestalterischen Rahmen. Für Sassen ist die derzeitige US-Regierung eine privatisierte Exekutive, die sich durch die Mobilisierung von Panik und Angst an der Macht halte: „Das Politische wird informell, das zeigt eine neue Ära.“

Wie die Geschichte lehre, könne man durchaus ein neues Subjekt der politischen Macht konstruieren, das nicht aus dem Zentrum der alten Macht komme. Frei nach Negri sagte Sassen auch, wer das sein soll: „Wir als die Multitude oder als was auch immer müssen etwas tun.“ Wobei sie durchaus auf die überkommenen Institutionen setzt: „Die Legislative muss wieder eingesetzt werden.“

Auch auf der Podiumsdiskussion zur Lage im Irak und in den USA wollte niemand so recht auf postmarxistische Terminologie setzen. Die New Yorker Philosophin Nancy Fraser stimmte in den ohnmächtigen Alarmismus liberal denkender amerikanischer Intellektueller ein und erkannte in der gegenwärtigen Situation der USA die schlimmste innenpolitische Krise seit dem Bürgerkrieg: „Mit einiger Wahrscheinlichkeit werden wir einen großen Wahlbetrug erleben.“ Die neuen Wahlmaschinen stammten von der mit den Republikanern verbandelten Firma Diebold, deren Software wiederum nicht eingesehen werden könne. „Ich sehe innenpolitisch ein Zerbröseln der Demokratie, was ich nicht verstehe, was mir aber richtig Angst macht,“ bekannte Fraser.