Gegen neoliberale EU

Das dritte Europäische Sozialforum beschloss, die Globalisierung nicht länger national zu bekämpfen

20.000 Kritiker der Globalisierung – mit unterschiedlichen Interessen

AUS LONDON NIKOLAI FICHTNER

Am Ende war der Teppich in der großen Halle von Alexandra Palace kaum noch zu erkennen. Übersät von Flugblättern, die zur Teilnahme an der nächsten Anti-G-8-Demo auffordern, über die Geschäftspraktiken eines Lebensmittelkonzerns informieren oder das Abonnement einer sozialistischen Wochenzeitung nahe legen. Die Teilnehmer des dritten Europäischen Sozialforums (ESF) in London konnten sich vor Angeboten kaum retten. Über 400 Seminare und Kulturveranstaltungen fanden von Freitagmorgen bis Sonntagmittag statt, ehe das ESF mit einer Großdemonstration gegen Krieg und Privatisierung endet.

Rund 20.000 Globalisierungskritiker aus 65 Ländern hatten sich auf den Weg nach London gemacht – zwei Drittel von ihnen aus Großbritannien, die meisten anderen aus Frankreich, Deutschland, Spanien und Italien. Mit teilweise recht unterschiedlichen Interessen: Bei den Briten steht eindeutig der Irakkrieg im Vordergrund. Parolen wie „Bring our boys back home“, die den sofortigen Abzug der Besatzungstruppen aus dem Irak fordern, wurden am lautesten bejubelt. Die Seminare zum US-Imperialismus im Allgemeinen und britischem Bush-Bashing im Besonderen waren total überfüllt.

Französisch gesprochen wurde dagegen, wenn es um die neue EU-Verfassung ging. Für den Präsidenten von Attac Frankreich, Bernard Cassen, legt diese den Neoliberalismus als offizielle Doktrin der EU fest. Er forderte daher: „Die Verfassung muss weg“ und kündigt eine groß angelegte Nein-Kampagne zum französischen Referendum über die EU-Verfassung an.

Für die deutsche Delegation war die EU-Verfassung kein kampagnenfähiges Thema. Attac Deutschland will sich weiter vorrangig dem Protest gegen den Sozialabbau widmen, allerdings unter europäischen Vorzeichen. Die Kritik, dass man sich zu sehr auf die Montagsdemos und den Erhalt des nationalen Wohlfahrtsstaats konzentriert habe, weisen die Attac-Vertreter von sich. „Dieser Gegensatz von nationaler und internationaler Ebene – das ist altes Denken“, wehrte sich der deutsche Attac-Sprecher Sven Giegold. „Der Sozialabbau in Deutschland ist doch nur die fühlbare Konsequenz der Globalisierung.“ Die Voraussetzungen dafür würden jedoch auf internationaler Ebene geschaffen. Nächstes Jahr wolle man sich daher auch wieder verstärkt um die globalen Hintergründe des Sozialabbaus kümmern. „Welthandel wird wieder ein großes Thema“, glaubt Giegold im Hinblick auf die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO im Dezember 2005 in Hongkong.

Dabei will man besonders die Rolle der EU im Handel mit Dienstleistungen ins Visier nehmen. „Die EU puscht weltweit die Marktöffnung für Dienstleistungen – im Interesse der großen europäischen Konzerne“, berichtet Susan George von Attac Frankreich und kündigt eine europaweite Protestkampagne gegen das WTO-Dienstleistungsabkommen Gats an.

Im Zelt vor der großen Halle klären derweil belgische Gewerkschafter über die Gefahren einer neuen EU-Richtlinie zur Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte in Europa auf. „Das ist wie das Gats – nur schlimmer“, klagt eine Transportgewerkschafterin über den Richtlinienvorschlag des EU-Binnenmarktkommissars Bolkestein. Kern des Kommissionsprojekts ist das so genannte Herkunftslandprinzip. Während sich ausländische Dienstleistungsunternehmen bisher an die Regeln und Standards des Landes halten müssen, in dem sie arbeiten, dreht der Bolkestein-Vorschlag das Prinzip um: Es sollen nur noch die Standards des Herkunftslandes gelten. „Das ist der Dschungel“, fürchtet ein anderer Gewerkschafter und warnt vor einer Abwärtsspirale bei Arbeits- und Sozialstandards.

Auf dem anschließenden Workshop wird eine europaweite Strategie zur Verhinderung der Richtlinie ausgearbeitet. Der Trend geht also wieder hin zur europaweiten Aktion. Anders als letztes Jahr, als das ESF zu dezentralen nationalen Protesten aufrief, ist diesmal eine zentrale „Europäische Demonstration“ geplant. Am 19. März soll im Vorfeld des EU-Gipfels in Brüssel zentral gegen das „neoliberale Europa“ protestiert werden. Der zweite Höhepunkt im Terminkalender der Globalisierungskritiker soll das G-8-Treffen der Staats- und Regierungschefs im schottischen Gleneagles werden. Am 2. Juli will man dort die britische Regierung an ihr Versprechen erinnern, 2005 zum entscheidenden Jahr im Kampf gegen die Armut in der Dritten Welt zu machen.

Ein Europäisches Sozialforum wird es 2005 allerdings nicht geben. Das nächste ESF findet erst im Frühjahr 2006 in Athen statt. Den Veranstaltern erschien der Aufwand für ein jährliches Treffen einfach zu groß. Die Globalisierungskritiker werden sich also noch etwas gedulden müssen – und Flugblätter wurden auch noch nicht gedruckt.