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Archiv-Artikel

Den Bürgerstaat aufrüsten

Das SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Auch Gemeinsinn muss gelernt werden, wie Schreiben und Lesen ist er eine Basisqualifikation

„Die Welt hat sich verändert, also muss sich auch Deutschland ändern“ – mit diesem Satz begründete Nato-Generalsekretär Robertson jüngst seine Forderung nach einer deutschen Berufsarmee. Die Gründe für Profisoldaten sind einleuchtend: Die Notwendigkeit zur „Landesverteidigung“ ist, in Europa, unwahrscheinlich geworden. Stattdessen wird es in den nächsten Jahrzehnten um bewaffnete Interventionen in Hungerregionen, Bandenkriege und Bürgerkriege in „failed states“ gehen, um den Kampf gegen Terroristen und die Sicherung der Wohlstandsgrenzen gegen Migranten. Das alles sind – wenn man der Geschichte optimistisch vorgreifen will – internationale Polizeieinsätze mit militärischen Mitteln im Rahmen einer künftigen Weltinnenpolitik. Sie erfordern Techniken, Kenntnisse und auch die Härte (bis hin zum Schießen auf Kindersoldaten), die man Wehrpflichtigen nicht zumuten kann. Und mit welcher Legitimation wollte man von jungen deutschen Bürgern den Einsatz des Lebens für Aktionen fordern, die politisch umstritten sind und nur noch sehr künstlich als Landesverteidigung deklariert werden können: Man kann sich die Sicherung des deutschen Energiebedarfs schließlich anders vorstellen als durch deutsche Soldaten am Horn von Afrika; den Export von Sicherheit anders als durch die Stationierung von Bundeswehrkontingenten in Afghanistan; und die „Unterstützung von Bündnispartnern auch über das Bündnisgebiet hinaus“ ist angesichts der US-amerikanischen Imperialpolitik erst recht fragwürdig geworden.

Es spricht also einiges für eine stark verringerte Anzahl High-Tech-gerüsteter Berufssoldaten, die schnell einsatzfähig sind, nach parlamentarisch auszuhandelnden Kriterien. Und es spricht alles dafür, dass diese Armee neuen Stils, solange sie nicht – irgendwann – zur Polizeitruppe der UNO geworden ist, eine europäische Armee sein muss. Denn allenfalls ein Europa, das sich um seine „backyards“ und Grenzen selbst kümmert, wird in der Lage sein, die US-amerikanischen Alleingänge zu bremsen. Selbst wenn dieser weitere Schritt der europäischen Integration noch eine Weile dauern und nur im Konflikt mit Washington durchgesetzt wird – die allgemeine Wehrpflicht ist definitiv militärisch sinnlos geworden. Sie gehört abgeschafft, besser heute als morgen.

Die Regierungskoalition hatte sich eine Entscheidung über die Wehrverfassung für diese Amtszeit vorgenommen, aber die Diskussion liegt auf Eis, nicht zuletzt deshalb, weil Minister Struck und sein Kanzler ex cathedra ein Bekenntnis zur Wehrpflichtarmee abgelegt haben. Die Angst vor grundlegenden Reformen, die Unentschiedenheit der Bundeswehrführung und politische Rücksichten auf diverse Standort-Klientelen spielen dabei ebenso mit wie die Furcht vor einer Grundsatzdebatte über die Aufgaben und Grenzen deutscher Militärpolitik in einer Welt, „die sich verändert hat“.

Strucks stoisches Bekenntnis zur Bundeswehr als der „größten Wir-AG in dieser Gesellschaft“ allerdings ist eine milde Perversion des Denkens. In einer Zeit, in der tendenziell alle „gemeinschaftlichen“ Elemente im Sozialstaat abgebaut werden, ausgerechnet die Armee als die letzte bürgerschaftliche Institution zu feiern, erinnert stark an die unselige „Schule der Nation“. „Wir-AG“ – wenn eine Organisation diesen Namen verdient, dann ist es der Zivildienst – die letzte Veranstaltung, die den einzelnen (männlichen) Mitgliedern der Gesellschaft noch einen „Dienst“ am Gemeinwesen zumutet, ein Fremdkörper im „Markt-Staat“, der nur noch die Garantie der äußeren und inneren Sicherheit und eine magere Grundschulausbildung übernimmt und seine „Dienstleistungen“ Stück für Stück privatisiert. Wenn die Wehrpflicht fällt, so heißt es, fällt auch der „Ersatzdienst“; Behinderte, die etwa noch durch den Park geschoben oder ins Kino begleitet werden wollen, müssten sich dann auf dem Niedriglohnmarkt umsehen, ob sie es bezahlen können.

Ein Argument für die militärisch nutzlos gewordene Bürgerarmee lässt sich daraus nicht schmieden. Eher schon legt das endemische Gerede vom Werteverfall, vom individualisierten Massenelend und der moralischen Verelendung breiter Schichten arbeitsloser Jugendlicher es nahe, an die Stelle einer obsolet gewordenen Wehrpflicht ein allgemeines einjähriges soziales Pflichtjahr zu setzen – man muss es ja nicht, wie Siegmar Gabriel, „Arbeitsdienst“ nennen. Im Anschluss an Schule oder Berufsausbildung könnte jeder junge Mann – und jede junge Frau – wählen, in welchem Bereich sie einen Beitrag zum Leben der Gesellschaft leisten wollen: in Kindergärten, als Assistentin in einer Ganztagsschule oder Zivilsheriff in nächtlichen U-Bahnen; im Aufbau und Betreiben von öffentlichen Internetcafés, in der Ausweitung der Öffnungszeiten von Bädern, Bibliotheken und Museen, beim Aufforsten des Erzgebirges – oder international: beim Montieren von Solardächern in Albanien, beim Anlegen transeuropäischer Wanderwege, in frei gewählten NGOs. Der Möglichkeiten sind viele. Ein Jahr sozialer Dienst – gut angeleitet könnte das für viele Lehrstellenlose eine Ausbildungsalternative werden, und für die künftigen Ärzte und Rechtsanwälte die letzte Chance, die Welt von etwas weiter unten zu sehen. Was für europäische Staatsbürger ohne Uniform könnten da heranwachsen, die ein Jahr am Wiederaufbau der Bibliothek von Sarajevo oder – zusammen mit französischen Vorstadtjugendlichen – am Pflanzen eines neuen Parks in der Banlieue von Lille gearbeitet hätten. Ein Jahr lang, für ein Taschengeld, in die Gesellschaft hineinwachsen und dabei schon Ernst machen – könnte das nicht an die Bewegungslust der jungen Bürger ebenso appellieren wie an ihre nachwachsenden Ressourcen von Solidarität, Neugier und Aktivität? Am Ende kämen Staatsbürger heraus, die eben jene „Identifikation mit dem Gemeinwesen“ entwickelten, deren Verlust allenthalben bejammert wird, ja, die am Ende gar reflektierter mitentscheiden könnten, wozu deutsche Soldaten im Ausland eingesetzt werden sollten und wozu nicht.

Die Wehrpflicht ist sinnlos geworden.Sie gehört abgeschafft,besser heute als morgen

Ich glaube nicht, dass das so sehr gegen den Zeitgeist geht, eher gegen die Ideologie vom Individualismus, den Mehltau des „Nichts geht mehr“ und die andressierte Entstaatlichungseuphorie auch der Sozialdemokraten. Und wem das alles zu sehr nach Zwang klingt, dem kann man sagen, dass es ein ausgesprochenes Elitemodell wäre: Nicht wenige der teuersten amerikanischen Privatuniversitäten verlangen eine solche unbezahlte soziale Arbeit von ihren Studenten. Auch Gemeinsinn muss gelernt werden, wie Schreiben und Lesen ist er eine Basisqualifikation; und um jeden Schatten des „Arbeitsdienstes“ zu vermeiden, könnte man die Verwaltung dieses Bürgerjahres ja den Schulen übergeben – vielleicht würde es auch dort etwas in Bewegung bringen. Und wer partout nicht will, der könnte sich freikaufen: mit einer Ersatzsteuer, die etwa dem Verdienst eines Lebensarbeitsjahres entspräche. Einiges Notwendige, das jetzt gestrichen wird, könnte so aufrechterhalten werden.

Die Welt hat sich verändert, deshalb müssen wir einiges ändern. Aber warum denn nur eine Berufsarmee? Warum nicht die Abrüstung des bewaffneten Nationalstaates nutzen, um den Bürgerstaat aufzurüsten?

Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin