Die Grenzen des Wachstums

Mehr als zweihundert Waldorfschulen gibt es schon in Deutschland. Doch immer weniger Eltern können es sich leisten, ihr Kind dorthin zu schicken. Besonders für Alleinerziehende wird es eng. Höhere staatliche Zuschüsse sind bisher nicht in Sicht

VON ANSGAR WARNER

Der Privatschulsektor in Deutschland boomt: Knapp 8 Prozent aller SchülerInnen besuchen bereits eine Schule in freier Trägerschaft. Das belegt eine aktuelle Erhebung des Statistischen Bundesamtes. Auch die Zahl der nichtstaatlichen Bildungseinrichtungen ist im Vergleich zum Vorjahr angestiegen: Über 5.000 freie Schulen gibt es nun, ein Plus von 5 Prozent. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland eher im hinteren Mittelfeld.

Julia Schier, Bundesgeschäftsführerin des Verbands Deutscher Privatschulverbände, beobachtet gleichwohl ein wachsendes Interesse an freier Bildung: „Viele Eltern wünschen sich eine größere Vielfalt und vor allem eine persönlichere Förderung ihrer Kinder.“ Dank innovativer pädagogischer Konzepte würden freie Schulen genau das möglich machen: individuell auf die Kinder einzugehen.

Freuen kann sich aber auch die Waldorfpädagogik: Sie hat an diesem Trend einen nicht unerheblichen Anteil. Mehr als zweihundert Waldorfschulen gibt es mittlerweile in Deutschland. Nur der Osten ist noch ein Stück weit Entwicklungsland: Seit der Wende haben hier erst achtzehn der Schulen ihre Pforten geöffnet. Von selbst entsteht freilich gar nichts: Alle Schulgründungen gehen auf Elterninitiativen zurück, die sich an Rudolf Steiners Erziehungsidealen orientieren. An vielen Orten wird der Unterricht auch durchgehend von der Sekundarstufe bis zum Abitur angeboten. Nicht nur im Grundschulsektor nimmt deswegen die Zahl der Schüler an Waldorfschulen zu. Allerdings könnte man bald an die Grenzen des Wachstums stoßen: Denn immer weniger Elternhäuser können es sich leisten, ihr Kind auf eine Schule in freier Trägerschaft zu schicken.

„Knapp die Hälfte aller Haushalte mit Kindern und mehr als drei Viertel aller Alleinerziehenden können sich den Besuch einer Waldorfschule nicht mehr leisten“, moniert die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Waldorfschulen in Baden-Württemberg. Bei den Alleinerziehenden seien es sogar über 80 Prozent. Berechnungsgrundlage war ein Gerichtsurteil, das in diesem Bundesland ein Schulgeld von etwa 120 Euro pro Kind und Monat gerade noch für verfassungsgemäß hielt. Viele freie Schulen fühlen sich zwischen Baum und Borke: Die Zuschüsse der Länder sind gedeckelt, drohen mancherorts sogar zu sinken, andererseits verbietet das Grundgesetz die „Sonderung“ von Kindern nach den Besitzverhältnissen der Eltern.

Beim Bund der Freien Waldorfschulen fühlt man sich deswegen mehr und mehr „in eine Rolle gedrängt, die unserem Selbstverständnis widerspricht, nämlich Schule für Besserverdienende zu sein“, so Vorstandsmitglied Albrecht Hüttig.

Tatsächlich wurde die erste Waldorfschule im Jahr 1919 vom Besitzer der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria in Stuttgart gegründet, und zwar für die Kinder der ArbeiterInnen. Eine Waldorfschule nur für Arbeiterkinder wäre unter den heutigen Bedingungen wohl nicht mehr denkbar, denn mittlerweile setzt man zur Finanzierung auf einen einen schulinternen Solidarausgleich zwischen reicheren und ärmeren Eltern. Je größer der Anteil finanziell schlechter ausgestatteter Eltern, desto schwieriger wird somit die solidarische Balance, erst recht in der Wirtschaftskrise. Natürlich ist Geld nicht alles, erst recht nicht im Bildungswesen, Qualität hat auch viel mit dem Engagement der Eltern zu tun, nicht nur an Waldorfschulen.

Privatschul-Kritikerin Marianne Demmer von der GEW empfiehlt Eltern auch weiterhin, ihre Kinder in die öffentlichen Schulen zu schicken und sich dort zu engagieren.

„Viele innovative Schulen beweisen, dass man keine freien Träger braucht, um gute Schule für alle Kinder zu machen“, betont Demmer. Sie nennt als Beispiel die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden und die Laborschule in Bielefeld, stellvertretend für viele andere gute öffentliche Schulen. „Entscheidend ist das richtige Konzept“, so die Schulexpertin weiter.

Doch fragt sich natürlich, wo neue Impulse eigentlich herkommen sollen: etwa allein aus dem staatlichen Schulsystem? Henning Kullak-Ublick vom Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen setzt dagegen auf den „lebendigen Wettbewerb um die besten Ideen“. Die freien Schulen würden die Rolle eines Innovationsmotors im deutschen Schulwesen spielen. Einzelne Schulen hätten sich sogar im Rahmen anerkannter Qualitätsmessverfahren zertifizieren lassen. Rudolf Steiner plus ISO 9000, das klingt nach zwei starken Marken. Nur das Problem der sozialen Nachhaltigkeit ist damit nicht behoben.