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Archiv-Artikel

Judenhass ruht lange nicht

50 Initiativen starten bis Ende November Aktionswochen gegen Antisemitismus. Diesen machen Experten als latente Gefahr aus – auch in muslimischen Communities von Neukölln oder Kreuzberg

VON CHRISTINE KEILHOLZ

Dass Antisemitismus hierzulande eine latente Gefahr darstellt, zeigt die permanente Bewachung jüdischer Schulen und politischer Einrichtungen in Berlin. Kritische bis feindliche Äußerungen Israeliten gegenüber seien schick geworden, waren sich verschiedene Experten aus Projekten, die sich mit Antisemitismus beschäftigen, gestern einig.

„Judenfeindlichkeit hat eine neue Qualität erhalten“, sagt etwa Anetta Kahane, Vorstandsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung. Diese neue Qualität trete offen in Gestalt von Islamismus und Antiisraelismus zu Tage. Ein „Knäuel judenfeindlichen Gedankenguts“ in den Köpfen wollen die Initiativen mit ihrer Aktionswoche gegen Antisemitismus entwirren. In 28 ostdeutschen Städten organisieren seit gestern mehr als 50 Projekte Lesungen, Workshops, Stadtrundgänge und Diskussionsrunden, diese Angebote dauern noch den ganzen November. Ziel ist, lokale Handlungsstrategien gegen Antisemitismus zu entwickeln.

„Man wird doch wohl noch sagen dürfen …“ – diese Floskel haben sich die Veranstalter auf die Plakate geschrieben. Mit solchen Worten eingeleitet, werden kontroverse Äußerungen entschärft und als berechtigte Kritik an israelischer Politik verkauft.

Anetta Kahane zieht deutliche Grenzen zwischen Antisemitismus und Israel-Kritik: „Wenn jemand den Holocaust leugnet, dem Staat Israel sein Existenzrecht abspricht, Juden aller Nationalitäten für den Nahostkonflikt zur Verantwortung zieht. Wenn Israelis mit strengerem Maß als andere gemessen und sogar dämonisiert werden, dann haben wir es ganz klar mit Antisemitismus zu tun.“

Und dieser dringe auch in der türkischen Community von Kreuzberg und Neukölln an die Oberfläche. Dies bestätigt auch Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismus. Sie spricht von „unseligen Allianzen“ aus zugewanderten Jugendlichen, die jüdische Mitschüler beschimpfen. Schulhöfe sind, besonders in Stadtteilen mit hohem Zuwandereranteil, auch Brennpunkte des immer radikaler werdenden Konfliktes im Nahen Osten. Die Aufklärungsarbeit beginnt bei Schülern und Lehrern. Letztere sehen sich in national gemischten Klassen oftmals von rassistischen Ressentiments überfordert. „Lehrer wissen, dass sie eingreifen müssen, trauen sich aber nicht“, sagt Matthias Hippler von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. Teils weil ihnen Einblick fehlt, teils um Konflikte nicht zu verschärfen.

Anlässlich der Aktionswochen organisiert Hippler am 17. November einen Stolpersteine-Rundgang mit Kreuzberger Schülern, „um die jüdische Lokalgeschichte Kreuzbergs zu veranschaulichen“. Die messingfarbenen Stolpersteine sind vor Häusern ins Pflaster eingelassen, in denen Juden wohnten, die von den Nazis umgebracht wurden. Hippler will mit den Schülern diskutieren, welche Bedeutung Nationalsozialismus und Antisemitismus für Jugendliche mit Migrationshintergrund haben.

Gerade unter Muslimen fehle eine differenzierte Sicht auf den Nahostkonflikt, sagt Juliane Wetzel. Einen der Gründe für muslimischen Antisemitismus sieht sie in der unzureichenden Integration muslimischer Jugendlicher. Dennoch gebe es in Berlin relativ wenige Übergriffe mit rassistischem Hintergrund. Friedhofsschändungen, von denen in anderen Teilen der Republik immer wieder berichtet wird, seien nach wie vor Sache von Rechtsextremen und nicht zwingend antijüdisch motiviert. „Es muss darauf geachtet werden, keine ,Islamophobie‘ auszulösen“, mahnt Wetzel an. „Trotzdem muss man das Problem klar benennen.“