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Archiv-Artikel

Zusammenwachsen durch Abwanderung

Weil immer mehr wegziehen, wird immer mehr abgerissen. Bis 2050 leben womöglich nur noch halb so viele Menschen im Osten

Es war das Credo der Nach-Wende-Zeit: West- und Ostdeutschland, sagte man, müssten zusammenwachsen und dann – zusammen wachsen. Aufholen müsse der Osten. Doch der Trend hat sich umgekehrt: Ostdeutschland schrumpft. Und könnte dabei womöglich zum Vorbild für den Westen werden, dem das gleiche Schicksal droht.

Denn der Osten blutet zuerst aus. Augenfälligstes Anzeichen dafür: Die entstehenden Geisterstädte in den neuen Ländern. Cottbus, Halle oder Dessau verlieren jährlich etwa 2 Prozent ihrer Bevölkerung, stellt ein Gutachten des Leibniz-Instituts für Länderkunde in Leipzig fest. In Berlin-Marzahn werden demnächst Plattenbauten verkleinert oder ganz geschleift. In Leipzig veröden ganze Stadtteile. Und Eisenhüttenstadt heißt vielleicht irgendwann wieder Fürstenberg, wenn alle Neubaugebiete um den historischen Kern verschwunden sind. Der riesige Wohnungsleerstand sei ein „Symptom des ostdeutschen Schrumpfungsprozesses, der im internationalen Vergleich eine neue Qualität von Deökonomisierung und Depopulation“ anzeige, heißt es in dem Gutachten. Was hier passiert, sei „kein kurzzeitiges zyklisches Phänomen“.

Bevölkerungsstatistiken bestätigen die Aussichten: Seit sechs Jahren ziehen immer mehr Menschen weg aus den neuen Ländern. Knapp 170.000 waren es 1997, gut 214.000 im Jahr 2000. Die Gegenrichtung nahmen 2000 nur 153.179 Menschen. Bleibt ein Minus von gut 61.000 für den Osten.

Szenarien verschiedener Institute gehen davon aus, dass sich die Bevölkerung in Ostdeutschland bis zum Jahr 2050 fast halbieren könnte. Im schlimmsten Fall leben dann dort nur noch etwa 8,6 Millionen Menschen. Selbst bei Halbierung der „Westwanderung“, errechnet das Leibniz-Institut, würde der Osten bis 2050 etwa fünf Millionen Einwohner verlieren.

Das größte Problem dabei: Vor allem die Jüngeren gehen. Die Enquêtekommission „Demographischer Wandel“ des Bundestages hat festgestellt, dass die Abwanderungsdynamik „insbesondere von der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen getragen wird“. Laut Statistik sind 1999 19,1 Personen dieser Altersgruppe je 1.000 Einwohner gegangen.

Schrumpfung ist eine Konsequenz daraus, die eine zweite mit sich bringt: Schnellere Alterung. Die Alterspyramide kehrt sich um. Heute ist noch jeder fünfte Deutsche unter 20 Jahre alt. Einer moderaten Prognose des Statistischen Bundesamtes zufolge wird im Jahr 2050 nur noch jeder Sechste jünger als 20 Jahre sein, aber jeder Dritte bereits 60 Jahre oder älter. Die Pyramide, schon heute eine „zersauste Wettertanne“, mutiert zu einer Art Zypresse. Dieser Prozess findet in ganz Deutschland statt, im Osten läuft er aber schneller ab.

Denn wenn sich gerade die jungen Menschen auf den Weg gen Westen machen, hinterlassen sie nicht nur eine ältere Bevölkerung, sie nehmen ihr auch das Potenzial, sich zu verjüngen – zumal „überproportional“ viele junge Frauen abwandern.

All diese Prozesse bedeuten für viele Regionen Ostdeutschlands: Alterung, Frauendefizit und eine Konzentration gering qualifizierter Menschen. Eine solche Entwicklung der Bevölkerungsstruktur scheint langfristig kaum umkehrbar, stellt das Berliner Institut für Weltbevölkerung und globale Entwicklung fest. Die Prognose für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung der neuen Bundesländer verschlechtert das zusätzlich. Es wird weiter geschrumpft.

OLIVER HAVLAT