Gastspiel im Thalia
: Stemanns „Käthchen“

Zerfledderte Klassik

Wer Nicolas Stemann bestellt, kriegt ihn auch. Der erfolgreiche ehemalige Hamburger Regieschüler spielt Kleist nicht vom Blatt. Er hetzt ihn ins ungemütliche Heute. Die großen Fragen nach Glauben, Vertrauen und Liebe stellt er in einer Welt, die schon nicht mehr nur entzaubert ist, sondern sich in ihrer Rohheit zynisch eingerichtet hat.

„Dem Stadttheater das Stadttheater austreiben“, nennt Stemann sein Prinzip. Und dasselbe Stadttheater stürzt sich hungrig auf ihn. In dem Fall das Thalia Theater, das Stemanns Käthchen von Heilbronn vom Berliner Deutschen Theater zu einem dreitägigen Gastspiel lud. Jüngst war der Regisseur mit seiner Werk-Uraufführung von Nobelpreisträgerin Jelinek zu höchsten Weihen beim Theatertreffen gelangt. Grund genug, ihn einzuladen. Und auch hier zeigt er sich als großer Klassikfledderer und Popästhet.

Katrin Hoffmanns Bühne ähnelt einem überdimensionierten Plattenspieler, der nicht nur bei John Lennons „Imagine there‘s no heaven“ öfter mal schlappmacht. Gleichzeitig dient sie als Schneidetisch, auf dem das Text- und Personenmaterial grob bearbeitet wird. Und wo im Hintergrund lustige Strichmännchenprojektionen den Kriegsverlauf illustrieren. Das edle Rittertum trägt Bundjacke, blickt herausfordernd von der Rampe und fordert schamlos Vertrauen ein.

Frank Seppeler trägt als Graf vom Strahl weißes T-Shirt. Er braucht eine ganze Weile, bis er in dem treuherzigen Käthchen, das ihm alle Eisen aus der lodernden Burg holen würde, die vom „Cherub“ versprochene Königstochter erkennt. Inka Friedrich gibt sie beseelt und besessen, die Grünpflanze im Arm, Holzclogs an den Füßen und die Prophezeiung im Herzen. Aylin Esener mimt Konkurrentin Kunigunde von Thurneck als Karrierefrau mit falschen Engelsflügeln.

Auch wenn Stemann die Tragik Kleists in ironisch überspitzte Anarchie verpackt, ein Hauch metaphysischer Sehnsucht bleibt erhalten. Und noch der wild zusammengesamplete Text trifft Kleist ins Schwarze.

Die Jungfrau ist auf eine handliche Statue geschrumpft. Die göttliche Prophezeiung wiegt deshalb nicht weniger schwer. Aus 22 Rollen werden acht. Aus vier Stunden eineinhalb. Ein im Publikum platzierter Chor übernimmt die göttliche Sendung. Den Rest besorgen eine programmatische Musikauswahl und großzügig eingestreute Videos.

Der verirrte Buhrufer aus den hinteren Reihen wurde von der Mehrzahl der Besucher gnadenlos wegapplaudiert. Caroline Mansfeld