Antreten zur Bewältigung!

Auf einer Weimarer Tagung zum „Kommunismus im Museum“ gerieten deutsche Studenten und osteuropäische Museumsmacher aneinander: Ist es möglich, deutsche Strategien der Vergangenheitsbewältigung zu exportieren?

Alle Museen leben von der Initiative und den Zuwendungen der ehemaligen Exilanten Nationen seien keine homogenen Subjekte, bemängelten die Studenten

VON CHRISTIAN SEMLER

Gibt es eine weltweit anerkannte deutsche DIN-Norm zur Geschichtspolitik, und zählt insbesondere der Artikel „Vergangenheitsbewältigung“ zu jenen Produkten deutschen Erfindungsgeistes, die den hiesigen Export beflügeln? Und gehören nicht Ost- und Südosteuropa traditionell zu jener Einflusszone, in die schon immer und erfolgreich deutsches Gedankengut geliefert wurde? In der Tat nimmt sich die durchfinanzierte, institutionell abgesicherte Erinnerung an „die zwei deutschen Diktaturen“ ziemlich imponierend, um nicht zu sagen: luxuriös aus. Vor allem wenn man sie mit den Mühen vergleicht, die unsere Nachbarn im Osten, die den steinigen Boden der Erinnerung beackern, auf sich geladen haben.

Den beiden Stiftungen „Ettersberg“ und „Aufarbeitung der SED-Diktatur“, die am vergangenen Wochenende ins Weimarer Reithaus zum Symposium „Der Kommunismus im Museum“ eingeladen hatten, ging es indes nicht um einen Wettbewerb der Musealisierung, eine Art Verkaufsveranstaltung. Vielmehr wollten sie, mit den Worten von Hans-Joachim Veen, dem Vorsitzenden der Ettersberg-Stiftung, über die aktuellen Auseinandersetzungen mit der Diktaturgeschichte in den jungen „postkommunistischen“ Diktaturen informieren, also einen Beitrag zur Gegenwart des Vergangenen leisten. Speziell sollte der Frage nachgegangen werden, welchen Beitrag zeitgeschichtlich orientierte Museen zu diesem Prozess leisten können.

Eingeladen waren Vertreter der bereits existierenden Museen in Budapest, im rumänischen Sighet, in Tallinn, Riga und Vilnius sowie der Promotor eines entsprechenden Museums in Warschau, das seinen Sitz im Kulturpalast erhalten soll, einem Nachkriegsgeschenk der sowjetischen Zuckerbäcker an die Warschauer Bevölkerung. Flankenschutz sollte dem Unternehmen der Chef des Leipziger Zeitgeschichtlichen Forums gewähren, einer Gründung des Jahres 1999, die sich schwerpunktmäßig dem Widerstand in der DDR gegen den Realsozialismus widmet. Umrahmt wurden die Erfahrungsberichte vom Auftritt zahlreicher renommierter Historiker und Museumsleute. Sie befassten sich, teils mit empirischen Daten, teils mit normativen Vorgaben ausgerüstet, mit der Frage, wie und zu welchem Ende Museen eingerichtet werden sollen, die die Zeit des Nazismus bzw. Faschismus, die Stalinzeit, die lange Stagnationsphase des Realsozialismus bis hin zu den demokratischen Umwälzungen von 1989 umspannen.

Zum eigentlichen Clou der Veranstaltung wurde aber der Auftritt einer Jenaer Gruppe von GeschichtsstudentInnen, die, von den Historikern Knigge und v. Puttkamer begleitet, in einem Parforceritt durch Ungarn, Rumänien und die baltischen Staaten geeilt waren, die genannten Museen besichtigten und anschließend in Kurzreferaten ihr Urteil über sie abgaben. Ein in mehrerer Hinsicht glücklicher Einfall. Denn erstens wurde durch die Studenten der sorgfältig abwägende, oft patrimonial-wohlwollende Stil durchbrochen, in dem solche Berichte normalerweise abgegeben werden. Und zweitens wurde durch die Studis die nächste, auf die Revolutionen von 1989/90 folgende Generation aufgerufen und damit dem Umstand Rechnung getragen, dass sich politische wie ästhetische Urteile im Gruppenzusammenhang der Generationen formieren. Das Erhoffte gelang, es kam zu hitzigen, dem Gegenstand angemessenen, zum Teil gänzlich unakademisch ablaufenden Diskussionen.

Fassen wir zunächst die Berichte der osteuropäischen Museumsleute zusammen. Diese Museen entsprangen zum größeren Teil Privatinitiativen. Sie wurden von Nichthistorikern angestoßen, werden von Stiftungen getragen und finanziert, in einigen Fällen auch vom Staat unterstützt. Mit Ausnahme des Museums in Tallinn, eines Neubaus, der sich am Vorbild des Kopenhagener Freiheitsmuseums orientiert, sind alle Museen an Orten untergebracht, die Zentren realsozialistischer Unterdrückung waren. Das Budapester Haus des Terrors beherbergte die nazistisch orientierten ungarischen „Pfeilkreuzler“, die nach der deutschen Besetzung 1944 die Macht ergriffen, und in der Nachkriegszeit den ungarischen Sicherheitsdienst. Das Museum im rumänischen Sighet diente der Aufnahme politischer Häftlinge, darunter führender Politiker und Geistlicher. In Riga, dem Okkupationsmuseum, bezog man ein Gebäude, das erst 1970 als Museum für die berühmten lettischen Schützen, die in der Oktoberrevolution an der Seite der Bolschewiki gekämpft hatten, errichtet worden war. Das Völkermord-Museum in Vilnius schließlich richtete sich in der ehemaligen Zentrale des KGB ein, wo tausende von Litauern, darunter viele, die sich nach 1945 am Partisanenkrieg gegen die Sowjets beteiligt hatten, umgebracht wurden.

Aus dem räumlich-zeitlichen Zusammenhang erfolgt bei diesen Museen erstens eine Konzentration auf die hohen Zeiten des Terrors, also bis zur Mitte der Fünfzigerjahre, während die lange Periode danach bis 1989 nur kursorisch abgehandelt wird. Zum Zweiten ergibt sich dort, wo die Gebäude zwei terroristischen Diktaturen dienten, die Notwendigkeit, die beiden Herrschaftsformen zueinander in Beziehung zu setzen. Dies geschieht in den baltischen Staaten dadurch, dass beide als Okkupanten gesehen werden, als imperiale Mächte, gegen die sich der Widerstand richtete, und weniger als gesellschaftliche Systeme. In Budapest wird durch stark emotional besetzte Symbolisierungen die wesentliche Gleichartigkeit beider Regime beschworen.

Alle genannten Museen leben sehr stark von der Initiative und den Zuwendungen der ehemaligen Exilanten. Erst langsam gewinnen sie das Interesse eines Publikums, das sich mit den konkreten Nöten des Übergangs zur Marktwirtschaft herumschlägt. Untersuchungen in Polen haben zum Beispiel ergeben, dass 2003 die große Mehrheit der Befragten das realsozialistische System positiv einschätzte, weil es für Vollbeschäftigung, einen niedrigen, aber gleichmäßigen Lebensstandard und für allgemeine Bildung sorgte. Eine Umfrage im Rigaer Museum ergab, dass nur knapp 10 Prozent Einheimischer das Okkupationsmuseum besuchen, der Rest sind Exil-Letten oder Touristen.

Die Anordnung der Exponate folgt in den Museen der auch im Westen erfolgreichen Praxis, dreidimensionale, aussagekräftige Objekte authentischen Ursprungs mit Dokumenten, Fotos, Reproduktionen, Schrifttafeln zu umgeben. Hierbei geraten die Ausstellungsmacher regelmäßig in ein Dilemma. Legen sie zu viel Gewicht auf die Alltagsgeschichte, so sprechen sie zwar die nostalgischen Gefühle der Besucher an, verlieren aber ihr Aufklärungsziel aus dem Auge. Konzentrieren sie sich aber auf die ihnen wichtige Aufgabe, die politische Unterdrückung und den Terror zu zeigen, erkennt das Publikum seine Lebenswirklichkeit nicht wieder.

An dieser Doppelnatur von Gedenkstätte und Museum und deren konkreter Ausgestaltung entzündete sich die Kritik der Studenten. Im rumänischen Sighet sehen sie beide Funktionen klug voneinander getrennt, vor allem im Budapester „Haus des Terrors“ hingegen herrsche eine Überwältigungsstrategie, die Lernen durch Aufklärung verhindere. Statt die Exponate nach Herkunft und Funktion zu erklären, setzen die Ausstellungsmacher auf Emotionen.

Ein weiterer Kritikpunkt betraf die Konzentration aller Museen auf die Jahre der doppelten, in den baltischen Staaten sogar die dreifache Okkupation (erst Sowjetunion, dann Hitlerdeutschland, dann wiederum die Sowjetunion). Hierdurch gerate die lange Phase realsozalistischer Herrschaft mit ihren Zwischenhochs und ihrem allmählichen Niedergang aus dem Blickfeld. In Übereinstimmung mit den Studenten stellte ihr Reisebegleiter v. Puttkamer fest, dass sich hier die Ausblendung der sowjetischen Erfahrung und des langjährigen Theoriestreits zu Terrorherrschaft versus „kommunistische Zivilisation“ auf dem Kolloquium gerächt habe.

Den Zorn vieler Teilnehmer erregten die von der Studi-Crew mit allgemein verbindlichem Anspruch vorgebrachte Forderung nach selbstreflexivem Umgang auch mit dem eingegrenzten Thema des Terrors. Die Studenten bemängelten, dass vor allem die jeweilige Nation als homogenes Subjekt vorgestellt und so zum Opfer stilisiert werde. Kollaboration, ja sogar eigene Initiativen aus der Bevölkerung bei Terrorakten, zum Beispiel bei der Verfolgung der Juden im Zweiten Weltkrieg, würden ausgeblendet.

Was die Studenten vortrugen, hatte in der Tat normativen Charakter. Es trug die Züge einer „willentlichen Selbstbeunruhigung“, wie der Historiker Klaus-Dieter Henke es zustimmend nannte, und folgte den Postulaten des Museumsdirektors von Buchenwald und zweiten Reisebegleiters, Volkhardt Knigge, nach kritischer Selbstreflexion. „Facing history and ourselves“.

In der Tat litten die Studenten nicht gerade an Selbstunterschätzung. Vielleicht hatten sie nicht hinreichend die Warnung des Ausstellungsmachers Rainer Rother bedacht, dass die Geschichte stets vielschichtig und mehrdeutig, eine Ausstellung hingegen auf einfache Botschaften angewiesen sei. Auch sei es, so Rother, legitim, wenn sich in einer Situation, wo es um nationale Identitätsfindung und um Delegitimation des Kommunismus gehe, die zeitgeschichtlichen Museen eben auf dieses Problem konzentrierten.

Der allgemeine Tenor der Kritik hingegen warf den Studenten vor, „die deutsche Elle“ anzulegen, sich eine Analyse des Freiheitskampfs und seiner historischen Bedeutung in Ost- und Südosteuropa zu ersparen, den Kommunismus zu verharmlosen. Sogar von Feldwebelton war die Rede. Fast ein ost-westlicher Streit zwischen dem Freiheitspathos ehemaliger Bürgerrechtsbewegter und dem Aufklärungspathos ehemaliger Linker. Die Studis focht’s nicht an. Und die nahe Ilm auch nicht, auf der die Flugkörper schwammen, die das erste Architektursemester der Bauhaus-Universität soeben als Abschlussprüfung zu Wasser gelassen hatte. Ein friedlicher Ort, eine kurze Illusion friedlicher Zeiten.