: Kioto lebt! Vergesst Kioto!
So schön es ist, dass auch Russland das Kioto-Protokoll ratifiziert hat: Ohne die USA hat der Klimaschutz keine Chance. Nun muss man sie auch ohne Vertrag geschickt einbinden
Es war schon ein Wunder, als sich nach vier Jahren Geschacher 180 Staaten in Bonn endgültig über das Kleingedruckte des Kioto-Protokolls einigen konnten. Und man muss es wohl ein zweites Wunder nennen, dass nun das Protokoll in Kraft treten kann. Drei zermürbende Jahre hat es gedauert, bis genügend Staaten ratifizierten. Viele hatten schon über einen „Plan B“ nachgedacht.
In der Politik gibt es Wunder aber nicht umsonst. Nach dem Ausstieg des größten Klimasünders USA kam es allein auf den zweitgrößten an: Russland. Ohne beide konnte Kioto mangels Masse nicht in Kraft treten. Russland nutzte dies schamlos aus, ließ sich erhebliche Vergünstigungen garantieren, bis es vor einer Woche ratifizierte – zunächst im Kioto-Protokoll, zuletzt sogar für den angestrebten Beitritt zur Welthandelsorganisation.
Viel schlimmer als die Verwässerung des Protokolls ist jedoch der Graben, der sich zwischen EU und USA aufgetan hat. Faktisch hatten sich die Vereinigten Staaten bereits 1997 aus dem Klimaprozess verabschiedet mit der Ablehnung entscheidender Punkte des Protokolls durch den US-Kongress. Der EU gelang es zwar, Japan, Norwegen, Kanada und schließlich Russland aus der Koalition der Bremser herauszubrechen. Doch dieser Erfolg der Klimaschützer wurde erkauft durch eine nachhaltige Entfremdung von den USA.
Kioto kann in Kraft treten, das ist schön. Fast ebenso wichtig ist, dass wir uns nicht länger über Kioto streiten müssen. Wir sollten die Qualen von Kioto schnell vergessen und ein neues Kapitel aufschlagen – mit Amerika. Bei allen Differenzen stehen uns umweltpolitisch die Vereinigten Staaten näher als Russland, Japan oder China.
Ohne die Amerikaner hat der Klimaschutz keine Zukunft. Denn: Wie sollen Schwellenländer Grenzen für ihren Ausstoß akzeptieren, solange die USA nicht mitmachen, die ein Fünftel der Treibhausgase in die Luft blasen? Gleichzeitig gilt: Obwohl Russland Kioto ratifiziert hat und die USA nicht, macht das keinen Unterschied – Kioto verlangt Russland praktisch nichts ab, da tun die Amerikaner schon jetzt freiwillig mehr.
Aufgrund der vielen Schlupflöcher wird das Kioto-Protokoll das Klima nicht deutlich abkühlen können. Seine Bedeutung ist eine andere: Es bildet ein Fundament für weltweiten Klimaschutz. Und es gibt diverse Anreize, klimafreundliche Technologien marktreif zu machen. Vor allem aber: Hätte nicht der ständige Kampf um Kioto die Weltöffentlichkeit sensibilisiert, es wäre politisch wohl noch immer umstritten, ob der Mensch das Klima überhaupt beeinflusst.
Um etwa 0,6 Grad hat sich das Klima in den letzten 100 Jahren erwärmt. Zwei Grad dürfen es nach Einschätzung der EU werden, um den Klimawandel halbwegs erträglich zu halten. Dazu müsste bis 2050 der Ausstoß an Treibhausgasen halbiert werden, was bedeutet, dass die Industrieländer um bis zu 80 Prozent reduzieren müssen, soll der Rest der Welt noch Raum für Entwicklung haben. Davon ist die Welt weit entfernt – selbst die EU.
Sollte die Menschheit alle fossilen Brennstoffe verfeuern, werden die Temperaturen in der zweiten Hälfte dieses Jahrtausends um bis zu neun Grad steigen, die Meere um bis zu acht Meter. David A. King, Blairs wissenschaftlicher Berater, nennt den Klimawandel „noch ernster als die Bedrohung durch den Terrorismus“. Eine im Februar an die Öffentlichkeit gelangte Pentagon-Studie zeigt, dass auch die USA beginnen, Klimawandel als Sicherheitsrisiko zu begreifen.
Trotz der Ignoranz der Regierung Bush machen auch die USA Fortschritte. Als 1997 das Kioto-Protokoll verhandelt wurde, war dort die Existenz des Treibhauseffektes höchst umstritten. Inzwischen hält dort eine ähnlich große Mehrheit den Klimawandel für ein ernstes Problem wie in der EU – und möchte sogar am Kioto-Prozess teilnehmen. In einer Art „Graswurzelrevolution“ (Economist) machen einige Bundesstaaten inzwischen auf eigene Faust Klimaschutz.
Selbst die Regierung Bush musste zur Gesichtswahrung ein, wenn auch wenig ambitioniertes, „Global Climate Change“-Programm beschließen. Interessanter schon die Initiative des demokratischen Senators Joseph Lieberman und seines republikanischen Kollegen John McCain, ein Emissionshandelssystem für Wirtschaft, Agrarbereich und Verkehr einzuführen. Es hat das Ziel, die Emissionen in diesen Bereichen bis 2016 auf das Niveau von 1990 zurückzuführen. Die Initiative von Januar 2003 ist bislang nicht mehrheitsfähig, vereinigt aber immerhin 40 von 51 nötigen Stimmen im Senat auf sich.
Fruchtbare Ansätze sind also da. Nur, wie bekommt man die USA wieder in den internationalen Prozess? 1997 störten sich die USA daran, dass die Schwellenländer bis 2012 keine Reduktionspflichten auferlegt bekamen und dass die Instrumente des Klimaschutzes nicht marktgerecht genug seien. Ab 2012 werden wohl alle einen Beitrag zumindest von Indien und China verlangen – ihr Anteil an den weltweiten Kohlendioxidemissionen beträgt bereits knapp ein Fünftel. Und mit dem Emissionshandel testet die EU derzeit das Marktinstrument par excellence. Der Streit um Kioto vernebelte, dass sich die Kontrahenten längst wieder annähern.
Den Ausschlag für die US-Ablehnung freilich gab die Scheu vor Multilateralismus, besonders wenn er als eine Attacke auf den American Way of Life wirkt. Deshalb muss die EU vermitteln. Möglich wäre ein Ansatz nach dem Motto: Wir gehen Kioto, ihr geht bis 2012 euren eigenen Weg. Entscheidend ist allein, dass sich die USA auf wirksamen Klimaschutz festlegen.
Viele US-Firmen werden über ihre europäischen Töchter bereits am EU-Emissionshandel teilnehmen. Dieser neue „Kohlenstoff-Markt“ fühlt sich laut dem britischen Magazin Economist schon jetzt „mehr nach den Schwindel erregenden Tagen von Silicon Valley an als nach dem Staatskapitalismus der europäischen Vergangenheit“. Das sollte die USA doch locken können. Ein anderer Ansatz wäre die gemeinsame Entwicklung alternativer Techniken zu Öl, Kohle und Gas – eine Art klimatechnisches „Apollo-Programm“ muss den USA einfach gefallen.
Tony Blair scheint diesen Weg gehen zu wollen. Der Klimawandel soll unter seiner G-8-Präsidentschaft im kommenden Jahr „oberste Priorität“ haben. Offenbar tritt das Protokoll gerade zur rechten Zeit in Kraft: Wer könnte den Amerikanern eine Brücke bauen, wenn nicht Blair?
Eines jedenfalls wird nicht fruchten: weiter die Weltgemeinschaft der „Klimaschützer“ gegen die USA in Stellung zu bringen – da würde selbst John Kerry nicht mitziehen. Die EU sollte sich zudem vor Hybris hüten, drohen ihr doch selbst noch erhebliche Probleme mit dem eigenen Klimaziel.
Und Deutschland? Man wünscht sich einen ähnlichen Einsatz von Gerhard Schröder wie derzeit von Blair. Leider wird Klimaschutz hierzulande überwiegend als lästige Pflicht verstanden – in der Innovationsstrategie des Kanzlers kommt er gar nicht erst vor. Deutschland läuft Gefahr, seine günstige Position zu verspielen. MATTHIAS URBACH