: Isländischer Nihilismus
Bücher für Randgruppen
Es ist so weit. Auch die 68er können nun fragen: „Was haben wir nur falsch gemacht?“ Mittlerweile sind nämlich ihre Kinder erwachsen und selbst zu kleinen eigenwilligen Monstern geworden, die auf keinen Fall so sein wollen wie ihre Eltern. Als junge Familienväter und -mütter strampeln sie sich unentwegt und schwer verzweifelt am revolutionären Erbe ab. Immerhin hat Marteinn, der 28-jährige Protagonist von Mikael Torfasons Roman „Der dümmste Vater der Welt“, schon mal einen Teil seiner Identität selbst bestimmt, indem er seinen ungeliebten Zweitnamen in Máni verwandelt. Máni, das bedeutet „Mond“, und tatsächlich geistert der 28-jährige Vater von zwei Kindern mit seinen blondierten Strähnchen etwas mondsüchtig durch die Landschaft der kaputten Beziehungen, der Sinnesfreuden und des Lebenssinns. Eigentlich findet er sich sogar ziemlich perfekt – bis vielleicht auf den künstlichen Darmausgang, dem ihm die Ärzte vor längerer Zeit gelegt haben. Seine Krankheit schafft ihm die nötige Distanz, sein Leben und das der anderen gnadenlos zu betrachten und zu bewerten. Als Ich-Erzähler taumelt Marteinn Máni durch das moderne Reykjavík und beschreibt dabei all das, was ausländische Besucher des Landes, aber vor allem auch deren Bewohner garantiert nicht sehen und hören wollen. „Wer möchte es schon wahrhaben, dass es in Island Junkies gibt?“, fragt er sich und philosophiert darüber, warum uns der Sinn des Lebens abhanden gekommen sei: „Es ist egal, für was man sich entscheidet: Fitnesscenter, Musik, Schnaps oder Fernsehen.“ Selbst die Meetings der Anonymen Alkoholiker geben keinen Halt – und zynisch setzt er nach: „doch eröffnen immerhin Sichtweisen, auf andere beispielsweise“.
Hinter all dem Nihilismus und der Aggressivität von Marteinn scheint Larmoyanz hindurch, eine moderne, coole Version, offenbart sich Orientierungslosigkeit oder Realitätssinn – je nachdem. Und in dieser Kritik an der Moderne lauert eine im wahrsten Sinne des Wortes unheimliche Sehnsucht nach Festigkeit und Ordnung. Denn so offen Marteinn auch über alles sprechen kann, über das Phänomen im Pornofilm beispielsweise, wo sich beim Dreier – Variante: zwei Männer, eine Frau – auch die beteiligten Männer mittlerweile körperlich näher kommen als noch vor wenigen Jahren, genauso ungezwungen beschimpft er Islands grüne Parlamentarierin Kólbrun Halldórsdóttir als „blöde Schwulenfreundin“, die feministische Bürgermeisterin von Reykjavík Ingibjörg Sólrun als Bürgermeisterschlampe oder den Premier David Oddsson als Säufer, der sich jedes Wochenende die Kante geben würde. Er wettert gegen die Scheidung, würde diese am liebsten abschaffen und hält ein engagiertes Plädoyer für ein grundsätzliches Verbot der Abtreibung.
Kein Wunder, dass dieser Roman im liberalen Island ein Skandal war und sicher nicht nur, weil zumindest einige der erwähnten Personen, die prominenteren jedenfalls, tatsächlich und nachweislich existieren. Der eingangs im Buch zu findende Hinweis, dieser Roman sei rein fiktiv, liest sich denn auch eher wie eine Betonung seines realistischen Gehaltes.
Bei fortschreitender Lektüre geht Marteinns nihilistische Betrachtungsweise dann doch mehr und mehr auf die Nerven, was aber offensichtlich durchaus so beabsichtigt sein dürfte. Den Faden bei dieser Generalabrechnung verliert der Erzähler indes nicht. Er hält die Spannung mal mit beißendem Humor, mal mit gnadenloser Bösartigkeit aufrecht und weist schließlich sogar einen Ausweg aus dem ganzen Elend. Welch Überraschung: Die Utopie liegt in Deutschland und heißt – Berlin. Allerdings völlig grundlos. Zumindest wird kein Grund dafür angegeben, warum Marteinn plant, dort hinzuziehen. Ob er in Berlin schließlich von den „Hausfrauen, die scheußliche moderne Kunst malen und gerahmt ihren Verwandten schenken“, verschont wird, ist nämlich nicht garantiert.
WOLFGANG MÜLLER
Mikael Torfason: „Der dümmste Vater der Welt“. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Tropen Verlag, Köln 2003, 256 Seiten, 18,80 Euro