piwik no script img

Archiv-Artikel

Warten auf Stübner

Vor 17 Jahren machte DDR-Nationalspieler Jörg Stübner Michel Platini zur Sau. Seit der Wende ist er abgetaucht

BERLIN taz ■ Damals, als er noch leicht zu finden war, nannten sie ihn den Rasenmäher. Weil er jeden Grashalm einzeln abstempelte. Jörg Stübner, 38, ist der Rasenmäher-Mann. Er spielte im Mittelfeld von Dynamo Dresden. Terrier. Pferdelunge. Arbeitstier. Solche Namen hatte er. Der Rasenmäher-Mann machte 47 Länderspiele für die DDR und keines für die Bundesrepublik. Er war der Freund von Ulf Kirsten. Mit 17 standen sie schon in der „Ersten“ von Dynamo, 1983; wenig später debütierten sie im Nationalteam. Morgen feiert Kirsten. Er hat zu seinem Abschiedsspiel geladen, ins Rudolf-Harbig-Stadion in Dresden. Kirsten hat seine alten Kumpels von Dynamo angerufen. Auch Stübner.

Kirsten ist ein renommierter Profi. Er kann auf eine erfolgreiche Karriere blicken. Jeder kennt ihn, kann sich ein Bild machen, zu ihm Kontakt aufnehmen – wenn er will. All das geht mit Jörg Stübner nicht. Er verkriecht sich in einer Wohnung in Dresden, manchmal auch in Freiberg, geht nicht ans Telefon und lehnt jeden Kontakt mit der Presse ab. Nur ein paar Vertraute verkehren mit ihm. Er wird zum Abschiedsspiel kommen. Vielleicht. „Ich freue mich riesig auf ein Wiedersehen“, sagt Kirsten. „Er war immer ein Führungsspieler, aber nur auf dem Platz, nicht daneben.“ Er hat ihn nach der Wende aus den Augen verloren, als die Zeit für Kirsten und gegen Stübner lief.

Nach dem Mauerfall brach das System der Rundumversorgung zusammen. Von Stübner wird verlangt, nicht mehr nur Rasenmäher zu sein, sondern mehr. Er scheitert daran. Spieler wie Kirsten gehen in den Westen und nehmen das Schicksal in die Hand. Stübner braucht andere, die das für ihn erledigen. Aber die sind mit sich selbst beschäftigt. Er verletzt sich in der Umbruchzeit häufig, sein Marktwert sinkt rapide. Begleitet werden die Verletzungen von „gewissen Dingen“, wie der damalige Vereinsarzt Wolfgang Klein sagt. Soll heißen: Stübner fängt an zu trinken, gerät aus der Bahn. 1993 muss er Dynamo verlassen.

Sein größtes Spiel machte Stübner am 11. September 1985 im Leipziger Zentralstadion. Beim 2:0 über Frankreich schaltete er Michel Platini aus. „Er hat Platini regelrecht zur Sau gemacht“, erinnert sich Andreas Trautmann, ein früherer Dynamo-Spieler. Es ist der Höhepunkt in Stübners Karriere, die bei unterklassigen Vereinen versandet, dem FC Neubrandenburg zunächst. Selbst dort werfen sie ihn raus. Er unternimmt einen Selbstmordversuch, prallt, mit Tabletten vollgestopft, im Auto gegen eine Mauer. Matthias Döschner nimmt sich seiner an, holt ihn zum nordrhein-westfälischen Verbandsligisten Eresburg-Obermarsberg. Dort brennt Stübner mit einem vereinseigenen Auto durch. „Er hat sich einfach nicht mehr helfen lassen“, sagt Döschner, 40-facher DDR-Nationalspieler. Versuche beim VfL Pirna-Copitz und zuletzt in Sangerhausen scheitern kläglich. Das Muster ist stets das gleiche: Ein paar Wochen hält Stübner durch, dann haut er ab und lässt nichts als Enttäuschung zurück. Am Sonntag warten seine Fans auf ein Zeichen des alten Jörg Stübner. Sie hoffen, dass er wieder auftaucht. Und wenn es nur für die Dauer einer Spiels ist. MARKUS VÖLKER