Der Kreis schließt sich

Rainer Schüttler räumt beim Masters Cup auch Andy Roddick, die Nummer eins der Tenniswelt, aus dem Weg und steht nun dort, wo er Anfang des Jahres bereits stand: im Duell mit Andre Agassi

aus Houston DORIS HENKEL

Irgendwie sieht es so aus, als müsse man sich das Tennisjahr 2003 nicht wie eine Gerade mit einem ersten Monat und einem letzten vorstellen, sondern wie einen Kreis, bei dem Anfang und Ende ineinander übergehen. Bei den Australian Open Ende Januar machte sich Rainer Schüttler einen Namen, besiegte Andy Roddick und spielte danach im Finale gegen Andre Agassi. Nun wiederholt sich die Geschichte beim Masters Cup in Houston. Mit dem Sieg im Gruppenspiel gegen Roddick stieß Schüttler die Tür zum Halbfinale auf, und auf der Schwelle steht auch diesmal kein anderer als – Agassi.

Damals in Melbourne beschrieb der Amerikaner James Blake Schüttlers Qualitäten so: „Er ist ein toller Spieler, ein großer Kämpfer, ein echter Profi, und er macht alles richtig. Ich wünschte, mehr Fans in den USA würden Spieler wie ihn wahrnehmen.“

Der Tag, an dem Schüttler in Houston gegen Roddick gewann (4:6, 7:6, 7:6), hat garantiert bei der weiteren Wahrnehmung geholfen. Das hatten sie sich so nett vorgestellt: Zuerst sollte Roddick siegen, dann sollte er offiziell geehrt werden als Nummer eins im Champions Race zum Ende der Saison, doch Schüttler zeigte sich wenig kooperativ.

Als er den Frust über den verpatzten Beginn des Spiels mit vielen Worten Luft gemacht und überwunden hatte, spielte er auf eine Art, die aus dem berühmten Buch von Roddicks Coach Brad Gilbert „Winning ugly“ zu stammen schien. Permanent zwang er dem Gegner eine Taktik auf, die dem nicht gefiel – Tempowechsel, mal reduziertes Risiko, dann überraschende Volleys, dazu das immer wieder wirkungsvolle Spielchen Stopp und Lob. Es war in gewisser Weise ein altmodisches Spiel, eher selten attraktiv, aber wie stellte Roddick hinterher treffend fest: „Es gibt keine schlechte Art zu gewinnen. Rainer spielt schlau. Er arbeitet hart jeden Tag, in jedem Spiel. Das ist ziemlich eindrucksvoll.“

Auf verschlungenen Wegen erreichte Schüttler das ersehnte Ziel und verdarb den Texanern die Party. Für Roddick hätte es sicher bessere Gelegenheiten zur Ehrung als Nummer eins gegeben: Mit gemischten Gefühlen nahm er keine fünf Minuten nach der Niederlage den Pokal entgegen, und er bedankte sich auch höflich beim ehemaligen amerikanischen Präsidenten und erklärten Tennisfan George Bush. Der drückte ihm die Hand bei der Zeremonie und versuchte ihn zu trösten wegen der Niederlage gegen – und da fiel ihm der Name nicht ein – „unseren Freund aus Deutschland“.

Nun, der Freund war zufrieden, meinte, gegen die Nummer eins gewinne man nicht jeden Tag, und das sei ein besonderer Sieg. „Aber es wäre schöner gewesen, wenn wir beide sensationelles Tennis gespielt hätten.“ Typisch deutsch dieses Verlangen nach Perfektion? Typisch Schüttler auf jeden Fall. Dass ihn der dritte Sieg in diesem Jahr gegen Roddick auf direktem Weg ins Halbfinale beförderte, hatte er der Unterstützung des Argentiniers Guillermo Coria zu verdanken. Dessen Sieg gegen Carlos Moya machte Schüttler vor seinem letzten Spiel am Freitag gegen Moya zum Gruppensieger.

Und weil beim Masters Cup irgendwie alle von allen abhängig sind, war es Agassi, der Roddick die vorzeitige Ehrung beschert hatte – mit einem Sieg gegen dessen Konkurrenten Juan Carlos Ferrero. Der neue, junge König sitzt also auf dem Thron, aber der alte ist immer noch eine kapitale Attraktion. Die Konkurrenten werden allmählich müde, Agassi kommt aus dem Vaterschaftsurlaub und wirkt derart ehrgeizig und engagiert, dass man meinen könnte, er habe noch nie einen großen Titel gewonnen. Gegen David Nalbandian riss er die Leute zum dritten Mal in Folge mit einem Krimi in drei Sätzen von den Sitzen (7:6, 3:6, 6:4), und eines ist ziemlich klar vor dem Halbfinale am Samstag gegen Schüttler: Mit Taktik allein wird er sich nicht verwirren lassen, so schlau sie auch sein mag. „Winning ugly“ kennt er bestens – schließlich hat er lange genug mit dem Autor gearbeitet. Aber mindestens ebenso klar ist, dass Schüttler diesmal nicht als großer Außenseiter ins Spiel geht. Im August hat er Agassi beim Turnier in Montreal zum ersten Mal besiegt, und allein die Erinnerung daran wird ihm helfen, wenn sich nun der Kreis schließt.