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Gott ist auch nicht viel besser dran: Umberto Eco erweist sich mit seinem neuen Roman „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“ als subtiler Philologe der Trivialliteratur

VON CHRISTIAN SEMLER

Wäre uns vor noch kurzer Zeit hinterbracht worden, Umberto Eco arbeite an einem Roman über Gedächtnis und Erinnerung, wir hätten mit Sicherheit zu wissen geglaubt, wohin bei ihm die Reise geht: grundgelehrte Abhandlungen über den Wandel der Gedächtniskunst, der ars memoriae, verschlungen zu einem raffinierten Handlungsknoten, alles vor dem opulent ausgemalten Hintergrund des Spätmittelalters. Denkste.

Eco hat unsere Erwartungen aufs Glatteis geführt, genauer, ins 20. Jahrhundert. Er breitet die verzweifelte Suche eines Antiquars vor uns aus, der, 1991 sechzig Jahre alt, nach einem Unfall sein Gedächtnis verloren hat. Und zwar sein biografisches Gedächtnis.

Natürlich hat Eco das Problem dieses partiellen Gedächtnisverlusts akribisch studiert. Tatsächlich gibt es diesen Verlust, und das gar nicht so selten. Das Unfallopfer hat seine persönliche Geschichte verloren, erkennt weder Frau noch Kinder, kann sich aber an alles erinnern, was sein semantisches Gedächtnis gespeichert hat, also alles Gelesene und Gelernte – das papierene Gedächtnis.

Dieses Krankheitsbild nutzt Eco virtuos. Er lässt den Antiquar mit dem schönen Namen Bodoni (der Name ist dem des Erfinders der edlen Antiqua-Schrift entliehen) nach der Lektüre seiner Kinder- und Jugendjahre fahnden, um irgendwie einen Anknüpfungspunkt an sein früheres Leben zu finden. Zuhauf lagern die Bücher, Hefte, Comics, Schallplatten und Zeitungen auf dem Dachboden der großväterlichen Villa, wohin der Antiquar zu Erholungszwecken gereist ist. Bodoni mobilisiert die Sinne. Er hört. Er liest. Er entdeckt, dass sein Spitzname Yambo einem Comic-Helden entlehnt ist. Manchmal blitzt es, aber nichts, was nur ihm zu Eigen wäre, scheint auf.

Das also ist Ecos Trick. Vor unseren Augen entsteht ein hinreißendes Panorama all dessen, was Kids, was Teenies vom Ende der Dreißiger- bis Ende der Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts verschlungen haben. Zwei Jahre hat Umberto Eco drangegeben, um diese Reichtümer aufzuhäufen. Damit wir aber nicht nur eine blasse Vorstellung dieses Universums gewinnen, hat er seinen Roman reich und fast durchweg farbig bebildert. Manche der Helden und Figuren sind uns von ihrem amerikanischen Ursprung her vertraut, aber in der Regel betreten wir eine unbekannte Welt, besser gesagt, als Leser stürzen wir uns regelrecht auf sie.

Yambo ist sich selbst bei seiner Lektüre ein rätselhaftes Kind. War er etwa ein kleiner Faschist, wie einer seiner Schulaufsätze nahe legt, oder ein frühreifer Skeptiker, wie es ein späterer tut? Wie passen die heroischen Kriegsgeschichten und Bilderheftchen, die brutalen Erzeugnisse aus der Giftküche Mussolinis zu Helden wie Flash Gordon, die doch für humane Werte streiten? Umberto Eco erweist sich als subtiler Philologe der Trivialliteratur. Er kontrastiert diese Welt der Phantasmen mit der Realgeschichte, lehrt uns, den Niederschlag des Kriegsverlaufs in Inhalt und Gestaltung der Comics und Heftchen zu begreifen, ohne dass der hemmungslosen Schaulust der Leser Abbruch getan würde. Als gewiefter Semiotiker deutet er die Zeichen, ohne den Leser allzu pädagogisch beim Händchen zu nehmen. Dabei erweist es sich keineswegs als Hindernis, dass das, was der kleine Yambo als Lektüre konsumierte, für uns in weite Ferne gerückt, wenn nicht sogar gänzlich unverständlich ist. Mag uns auch das faschistische „Opfer fürs Vaterland“ heute nur mit Grauen erfüllen, wir ahnen, wie stark solcher Schrott die Gemüter junger Leute gefangen hielt. Und wir wissen um die Ungleichzeitigkeiten, um innere Widersprüche, um Brüche zwischen privater Sehnsucht und öffentlicher Selbstverleugnung. Zudem: Was heißt „wir“? Jede Generation hat offensichtlich gemeinsame Erinnerungen, eine eigene „Erinnerungskultur“, wie das die Soziologen nennen. Sie sprechen von „generationellen Erinnerungsgemeinschaften“. Und Ecos Interesse gilt der Erinnerung und dem kollektiven Gedächtnis der um 1935 Geborenen, die den Krieg erlebten, ohne Soldat sein zu müssen. Deren getreuer Repetitor möchte Eco sein.

Sind die deutschen Leser allgemein, besonders aber die späterer Generationen, von dieser Erinnerungsarbeit ausgeschlossen? Das Schöne an Ecos Bilderbuch ist, dass das Gedächtnis der Leser quasi wie von selbst Bilder aus der je eigenen Vergangenheit hervorholt, frühe Lesevergnügungen, Ängste, Allmachtsfantasien, die dennoch oft nicht ihm allein, sondern seiner Generation gehören. So erging es auch dem Rezensenten, der in der Nachkriegszeit aufwuchs. Ihm standen plötzlich die bunten Illustrationen zum Lederstrumpf vor Augen, er entdeckte die Weiten des Mississippi und der Wüste Gobi wieder, er schmeckte die verbotenen, kostbaren Zigaretten der Marke Gold-Dollar, und das berühmte „Wenn bei Capri die rote Sonne [viel später „die rote Flotte“] im Meer versinkt“ klang ihm wieder in den Ohren. Von Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand, die alle Jungengenerationen miteinander verbinden, ganz zu schweigen.

Als Yambo, der Antiquar, die erste Gesamtausgabe von Shakespeare, die Folio-Edition, ein Werk unermesslichen Werts, entdeckt, fällt er erneut ins Koma. Ohne Bewusstsein arbeitet jetzt seine Erinnerungsmaschine, aber so, wie sie, nicht wie er will. Er erinnert sich (im Traum?) sehr genau an die konkreten Ereignisse der Jahre um 1945, was Umberto Eco Gelegenheit gibt, eine schöne, herzergreifende Partisanengeschichte zu erzählen, deren Held natürlich Yambo selbst ist und ein Anarchist namens Gragnola, der ihn in negativer Theologie unterweist: „Wir stecken bis zum Hals in der Scheiße, aber Gott ist auch nicht besser dran.“

Schließlich versammeln sich zum Ende von Yambos zweitem Koma die Helden aller Comics, Revuestars, Sänger, lebende und tote Verwandte zu einem großen Galaauftritt auf der Eingangstreppe seines Mailänder Gymnasiums. Aber bis zum Schluss vermag Yambo nicht das Gesicht seiner angebeteten, unerreichbaren Jugendliebe Lila Saba zu entdecken, das zu erinnern er sich über so viele Seiten des Romans vergeblich bemüht hatte – und quält damit uns, seine kitschgierigen Leser.

Natürlich bietet Ecos Roman nicht nur Vergnügen, sondern auch eine Parabel. Das wild gewordene, unkontrollierbar schaltende semantische Gedächtnis gleicht der Sturzflut des Internet, die auf uns, die oft Wehr- und Unterscheidungsunfähigen, hereinprasselt. Wir brauchen dringend Filter. Umberto Eco hält den seinen parat. Aber er drängt ihn uns nicht auf.

Umberto Eco: „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“. Aus dem Italienischen (ganz virtuos übersetzt) von Burkhart Kroeber, Carl Hanser Verlag, München/Wien, 2004, 508 Seiten, 25,90 €