: Ein Profil, aber keine Gesichter
Der Union mangelt es nicht an Geschlossenheit, sondern an Vielfalt. Wenn CDU und CSU gewinnen wollen, müssen sie lernen, wie man gegensätzliche Positionen integriert
Wer sich ein Bild von den Perspektiven der Christdemokraten machen will, ist gut beraten, einen kurzen Blick auf die anstehenden Wahlen in den Vereinigten Staaten zu werfen. Zu den so beeindruckenden wie erklärungsbedürftigen Phänomenen gehört der Zuspruch, den der amtierende Präsident George W. Bush gerade in den ärmeren US-Bundesstaaten genießt, obwohl seine Steuerentlastungspolitik vornehmlich den reichen Amerikanern zugute kommt und in seiner Amtszeit die Zahl der Arbeitslosen von 5,5 auf 8,5 Millionen gestiegen ist.
Der Begriff Neoliberalismus bezeichnet hier kein Programm mehr, sondern faktische Verhältnisse, die ihrerseits einen reduzierten Erwartungshorizont abstecken. Innerhalb dieses Horizonts geben anscheinend nicht mehr so sehr Sachaspekte den Ausschlag für politische Präferenzen, sondern solche der Haltung. Der Republikaner Bush und sein demokratischer Kontrahent John Kerry stehen vor allem für unterschiedliche Kulturen. Der evangelikale Stil, in welchem der derzeitige Präsident seine Sicherheits- und Gesellschaftspolitik betreibt, sichert ihm Zuspruch auch in den unteren Schichten.
Auch in Deutschland entkoppeln sich wirtschaftliche Entwicklung und staatliche Steuerung. Bei den jüngsten Krisen bei Opel und Karstadt war von dem Interventionismus, mit dem der Kanzler noch vor drei Jahren für Furore sorgte, nichts mehr zu spüren. Zu den Perspektiven des Arbeitsmarktes äußert sich die gesamte politische Klasse nur noch äußerst schmallippig, haben sich doch alle Beschäftigungsprognosen als schönfärberisch erwiesen. Mittlerweile wird wirtschaftliche Stärke bereits als ein Wert an sich gewürdigt.
Auf dieser Linie lagen die Reformen der rot-grünen Bundesregierung, dieser Linie folgt die Union. Keines der beiden Lager kann um den Preis der eigenen Glaubwürdigkeit hier noch eine fundamentale Opposition formulieren, die Differenzen verschwimmen in den Details. Auch wo klare Konfliktlinien gesucht werden, werden die Konturen auf den zweiten Blick schon wieder undeutlich.
Angela Merkel hat ein liberales Wirtschaftskonzept zu ihrem Kennzeichen gemacht. Doch die Union knirscht bei der Umsetzung wie zuvor die SPD bei der Agenda 2010. Kopfpauschale und Bürgerversicherung sollen die politischen Lager kenntlich machen. Doch spricht vieles dafür, dass mehr der Klang der Begriffe und weniger das, was sie umschreiben, den Ausschlag geben wird. Denn ob der soziale Ausgleich über Steuern oder über Einkommensabzüge finanziert wird, ist keine Frage, an der sich politische Grundorientierungen ausmachen lassen. Entscheidender ist schon dessen Höhe und die Frage, ob zu seiner Finanzierung Steuern erhöht werden.
Der Verdruss an den Reformprozessen bescherte der Union den Zuspruch von Wählergruppen, die ihr traditionell eher fern standen. Arbeiter und sozial Schwache sorgten, sofern sie nicht in die politische Abstinenz flüchteten, bei den vergangenen Wahlen für Minussiege der CDU, für Erfolge aufgrund geringerer Verluste.
Doch verfügt die Union über keine tragfähigen Verbindungen in diese Milieus, sie sind nicht präsent im Alltagsleben der Partei. Keiner der führenden Leute spricht ihre Sprache, findet die richtigen Worte, um ihrem ressentimentgeladenen Konservatismus Ausdruck zu verleihen, ohne zugleich die bürgerlichen Zielgruppen der Partei zu verschrecken.
Nirgends wird dieses Dilemma deutlicher als in der Zuwanderungspolitik, wo die Union sich zwar gegen das geballte Begehren von Wirtschaft, Kirchen und Regierungsparteien stemmt, daraus aber kein gesellschaftspolitisches Leitbild filtern kann, obgleich sie die Mehrheit dieser Gesellschaft hinter sich weiß. Denn selbst in den großstädtischen Milieus, in denen die Grünen beheimatet sind, ist die proklamatorische Weltoffenheit früherer Jahre durch die konkreten Probleme multikulturellen Zusammenlebens entzaubert worden, wird die Frage nach dem inneren Zusammenhalt der Gesellschaft aufgeworfen.
Will die Union für solche postmaterialistischen Milieus anschlussfähig werden – und Angela Merkel hat dieses als ein Ziel ins Auge gefasst –, dann kann sich ihre Politik nicht mehr in Abgrenzung erschöpfen, sondern verlangt ein integratives Konzept, das zugleich den jeweiligen Lebensentwürfen genug Raum lässt. In der Frauen- und Familienpolitik hat die CDU ein solches Konzept programmatisch auf den Weg gebracht. Das christlich geprägte Leitbild der Hausfrauenfamilie verschwimmt, wenngleich auch in den aktuellen Debatten um die Vorsitzende Angela Merkel immer noch patriarchal geprägte Ressentiments anklingen.
Die Konkurrenz um die Nachfolge des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Erwin Teufel wird auch Aufschluss darüber geben, wie weit dieser Wandel in der Partei durchgedrungen ist. Ein Erfolg der ledigen Bildungspolitikerin und bekennenden Katholikin Annette Schavan wäre ein Fortschritt in einer Partei, in der noch vor zwei Jahren der Familienpolitikerin Katharina Reiche die Aufnahme in das Wahlkampfteam von Edmund Stoiber verwehrt wurde, weil sie nicht verheiratet war. Stoiber scheiterte seinerzeit als Kandidat, weil er zwar die Modernisierung des Standortes propagierte, seine kulturelle Haltung aber traditionalistisch war.
Stoiber wird nicht noch einmal antreten. Er ist, nachdem Erwin Teufel abdankt, der letzte unter den Ministerpräsidenten, der habituell noch die Union der Ära Kohl verkörpert. Die nun dominierende Generation der Fünfziger hat in den letzten Jahren programmatische Veränderungen eingeleitet, aus denen allmählich ein verändertes Selbstbild erwächst.
Doch noch passen einzelne Fragmente zu wenig zusammen, werden Widersprüche lieber verschwiegen als ausgetragen oder Auseinandersetzungen auf Machtfragen eingeengt. In der Art ihrer Willensbildung steht die Merkel’sche CDU noch voll in der Tradition der Kohl’schen. Vielleicht begründet dieser Mangel an innerparteilicher Offenheit die Blässe dieses neuen Selbstbildes. Den Unionsparteien fehlt es an Gesichtern, die erkennbar für Profile stehen. Das fällt vor allem dann auf, wenn Ausnahmeerscheinungen wie Friedrich Merz verschwinden oder wie Ole von Beust Erfolg haben.
CDU und CSU könnten durchaus von den Grünen lernen, wie man Exponenten konträrer Positionen integriert und aus der Austragung der Differenzen noch einen Gewinn für die Partei erzielt, der sich am Wahltag auszahlt. Das gesellschaftliche Ansehen der Grünen begründet sich nicht unwesentlich aus ihrer Konfliktkultur. Beide Unionsparteien werden von der Alterskohorte der Fünfzigjährigen angeführt, die auf die Generation Gerhard Schröders folgt. Wohl nicht umsonst hat die CDU-Vorsitzende Angela Merkel in den Grünen einen wesentlichen Konkurrenten im Kampf um neue Wählerschichten erkannt.
DIETER RULFF