Probleme mit der Chemie

Der Grünen-Parteitag bestätigt zwar nach heftiger Debatte den Privatisierungskurs. Er streicht aber ein Bekenntnis zur Industrie und pfeift die Fraktion beim Stellenabbau im öffentlichen Dienst zurück

„Wir dürfen nicht zurückmutieren zu einer Ökosekte“

von STEFAN ALBERTI

Grünen-Finanzexperte Jochen Esser mochte die Dinge gar nicht groß beschönigen. Seine Partei stellte sich am Wochenende zwar mehrheitlich hinter den von ihm vertretenen Privatisierungskurs bei den Landesbetrieben. Dazu gehört, dass BSR und BVG zukünftig verkauft werden können. In zwei anderen Punkten aber pfiff der Landesverband seine Parlamentarier zurück: keine konkrete Festlegung auf Stellenabbau im öffentlichen Dienst, wie ihn Fraktion und Wahlprogramm propagieren; und zweitens kein Bekenntnis dazu, dass auch Auto- und Chemieindustrie Berlin wirtschaftlich beleben. „Die Partei hat noch nicht den Mut zu diesem symbolischen Schritt“, sagte Esser.

Der Parteitag war noch keine Stunde alt, da kochten die Emotionen schon hoch. Doppelzüngigkeit warf Esser seiner Partei vor, die sich im Parlament auf einen Sparkurs festlege und am Infostand verkünde: Alles halb so wild. „Blöd“ nannte er es, wenn Parteifreunde Industrieansiedlungen mit neuen Arbeitsplätzen ablehnten, weil da Autos entstünden oder „weil Coca-Cola eine Imperialistenbrause ist“. Er habe es bedauert, dass das BMW-Werk nach Leipzig gegangen ist, sagte Esser und hörte dafür Buhrufe. Gegenredner beharrten darauf, nur nachhaltige Wirtschaftsszweige zu fördern.

Vor allem Delegierte aus Kreuzberg kritisierten, dass sich der 16-seitige Leitantrag allein mit Wirtschaftspolitik und Haushaltssanierung beschäftige. „Die Zuspitzung auf Haushaltspolitik ist falsch“, sagte Rudi Frey, der einen zweiseitigen Gegenentwurf präsentierte.

Dessen Tenor: Die Sanierung des Haushalts über Ausgabenkürzungen sei gescheitert, Bund und Länder sollen ran. Konkrete Zahlen nannte Frey nicht. Der vor allem von den Finanzern Esser und Oliver Schruoffeneger, der Bundestagshaushälterin Franziska Eichstädt-Bohlig und der Fraktionsführung getragene Leitantrag rechnete ein Sparvolumen von 3 Milliarden vor.

Martina Schmiedhofer, die grüne Sozialstadträtin aus Charlottenburg-Wilmersdorf, sah bei manchen Parteifreunden eine gewisse Heuchelei: sich in Berlin von der chemischen Industrie zu distanzieren, aber gerne das Geld aus dem Länderfinanzausgleich zu nehmen, das unter anderem in diesem Bereich erwirtschaftet werde. „Das wird doch nicht mit Solarenergie verdient“, sagte sie und forderte mehr Realitätsnähe. „Wir müssen uns dafür öffnen, dass auch nichtökologische Wirtschaft zum Aufschwung beiträgt.“

Wolfgang Wieland, Exsenator und so etwas wie das Gewissen der Partei, argumentierte in die gleiche Richtung. Natürlich, ein in Spandau produziertes Motorrad sei nur insofern nachhaltig, als es einen nachhaltig unter die Erde bringen könne. Das dürfe aber nicht heißen, dass die Grünen eine solchen Industriezweig mit seinen Arbeitsplätzen schlicht ablehnen: „Wir dürfen nicht zurückmutieren zu einer Ökosekte. Das waren wir nie, und in diese Richtung sollte es auch nicht gehen.“

Trotz prominenter Warnungen konnte sich eine Pro-Industrie-Passage nur mit knapper Mehrheit im Leitantrag halten. Raus flogen aber Berliner Beispiele für erneuerte Industriebetriebe: Die Namen Smart, Berlin Chemie und BMW sollten nach mehrheitlicher Meinung kein grünes Papier beflecken. Fraktionschefin Sibyll Klotz bekam schier die Krise: „Berlin Chemie bildet aus, die beschäftigen Behinderte.“ Den Betrieb hier wie einen Aussätzigen zu behandeln – Klotz war fassungslos.

Dazu hatte sie nochmals Gelegenheit. Denn die Delegierten strichen die Leitantragspassage, dass im öffentlichen Dienst über Fluktuation 20.000 Stellen wegfallen sollen. Vergeblich argumentierten Esser, Klotz und Co., mit dieser konkreten Zahl wehre man sich gegen höhere Zahlen, wie sie Finanzsenator und FDP nennen. „Müssen wir Grüne uns hier zum Arbeitsplatzvernichter machen? Da wird ein falsches Signal ausgesandt“, entgegnete die Umweltpolitikerin Felicitas Kubala unter Beifall. Die Arbeit soll stattdessen neu verteilt werden, etwa über Teilzeitmodelle.

Bei Haushältern aber gilt dieser Bereich nach dem nur mühsam ausgehandelten Solidarpakt als weitgehend ausgeschöpft. Finanzexperte Schruoffeneger kündigte an, den Parteibeschluss nicht zu akzeptieren: „Wir werden beim Stellenabbau weiter die Zahl 20.000 vertreten.“