Die wahre lahme Ente

Micky Maus wird heute 75. Glückwunsch. Allerdings: Eigentlich geht es mit Micky schon seit 1935 abwärts. Schuld ist Donald Duck. Bzw. Walt Disney

von MARTIN ZEYN

Walt Disney erzählte einmal folgende Geschichte: Wenn er in den 20er-Jahren davon sprach, dass er im Filmgeschäft sei, dann fragte man interessiert nach. Wenn er dann sagte, er mache Zeichentrickfilme, dann schauten ihn die Leute an wie einen Straßenfeger. Erst Disney hat dem Zeichentrickfilm Renommee verschafft, der erste und wichtigste Verbündete war dabei Micky Maus.

Die Geschichte der Maus-Geburt ist tausendfach mit kleinen Varianten kolportiert worden. Walt Disney, 1901 geboren, gründete als 18-Jähriger zusammen mit Ub Iwerks seine erste Firma. Nach einigen Vorläuferfilmen entstand 1927 die Figur „Oswald The Lucky Rabbit“. Aufgrund des Erfolgs der Oswald-Kurzfilme hoffte Disney, mehr Geld zu bekommen. Sein Geschäftspartner Charles Mintz lehnte nicht nur ab, sondern bot ihm nur einen schlechteren Vertrag an.

Anderenfalls werde er mit Disneys Animatoren die Reihe weiterproduzieren. Tatsächlich lagen die Rechte damals üblicherweise bei den Verleihern. Auf der Rückfahrt von New York nach Kalifornien, so erzählt er auf der CD „Disney Treasures“, die der gleichnamigen jüngst erschienenen Devotionalienbox beiliegt, erschien Micky. Was der Vater hier nicht erwähnt: Gezeichnet hat die Maus Ub Iwerks. Micky erscheint am 18. 11. 1928 zum ersten Mal auf der Leinwand: „Steamboat Willie“ lehnt sich an einen Buster-Keaton-Film mit dem Titel „Steamboat Bill“ aus demselben Jahr an. Das Phänomen, durch Kannibalisierung anderer Filme ironische Effekte zu erzielen, ist bis heute ein Genremerkmal.

Micky als Matrose

Micky fährt als Matrose auf einem Dampfboot. Minni will mitfahren, Micky hilft ihr aufs Boot, indem er den Kran ausfährt und den Haken an der Unterhose befestigt. Solche Männerscherze unterbleiben in späteren Jahren. Und da eine Ziege Minnis Instrument auffrisst, spielen die beiden Mäuse mit Schwänzen, Zähnen, Zungen der mitgeführten Tiere das Lied „Turkey In The Straw“. Der einfache, aber urkomische Surrealismus sowie Disneys Fähigkeit, einen Helden an den Genrekonventionen vorbei, nämlich als anarchistischen, amoralischen Racker, zu entwerfen, machen Micky binnen weniger Monate zu einem Weltstar. Noch dazu zu einem sprechenden. „Steamboat Willie“ ist zwar nicht der erste Tonfilm, doch Disney nutzt die Möglichkeiten des neuen Mediums, die Handlung orientiert sich an der Musik, die Instrumentation am Geschehen. In Trickfilmen gibt es nichts Echtes, keine Realität. Diese Freiheit nutzt Disney, er macht aus dem Synthetischen etwas Synästhetisches.

Der Dadaist und Filmemacher Hans Richter schreibt 1939: „Was an den Meisterwerken von Disney vor allem entzückt, ist die rhythmisch genau komponierte und beherrschte Bewegung, im Bild wie im Ton.“ Dieser Hang zur Perfektion und zur technischen Verbesserung kennzeichnet Disney, nachzulesen und zu bestaunen im Band „Zauberhafte Welten“ (Dino 2003), in dem der Zeichner Russell Schroeder die Arbeiten der zahlreichen beteiligten Animatoren würdigt.

Unerwähnt bleibt: Disney verursacht damit in den 40er-Jahren fast den Ruin des Studios. Die eindringliche, unverwechselbare grafische Anlage von Micky Maus, der aus drei Kreisen aufgebaut ist und nie perspektivisch gezeigt werden darf, prädestiniert die Maus fürs, pardon, Mäusemachen, also fürs Merchandising.

Bereits 1929 produziert die thüringische Firma Weiß, Kühnert und Co. „Micky-Mäuse“ aus Porzellan, die Nürnberger Firma Johann Diestler Micky-Blechspielzeug. Sein Erfolg bildet das Kapital, ohne dass Filme wie „Schneewittchen“ oder „Fantasia“ nie entstanden wären.

„Alles begann mit einer Maus“, auf diese Formel brachte es Walt Disney. Die libidinös besetzte Beziehung des Vaters zu seinem Geschöpf hat hier ihren Ursprung, Micky hat Walt Disney vor dem Ruin gerettet, ihn reich und berühmt gemacht. 1932 gibt es einen Ehren-Oscar für die Erschaffung von Micky. Doch trotz des Erfolgs verändert Walt Disney seine Figur. Die wird zahmer, weniger rüpelhaft, ihre Linien werden weicher. 1935 in „The Band Concert“ spielt Micky Maus einen niedlichen Dirigenten. Dem Donald Duck dazwischenfunkt. Donald hat gerade mal vor einem Jahr das Licht der Leinwand erblickt. Und nun folgt das Orchester seinen Flötentönen, nicht dem Taktstock von Micky. Perfide: Donald spielt „Turkey In The Straw“, jenes Lied, das Micky berühmt gemacht hat.

Auf die Frage, warum Walt Disney die Charakteristik der Figur veränderte, gibt es unterschiedliche Antworten. Die einen glauben, dass Kritik von außen über die angeblich nicht kindgemäße Brutalität ihn dazu veranlasst habe. Andere betonen, dass Disney selbst seriös geworden sei, und dass also auch seine Lieblingsfigur, der er von 1928 bis 1947 sogar die Stimme lieh, nun sich anständig zu verhalten hatte. Doch es gibt auch eine profane Erklärung. Micky Maus war erfolgreich, den Durchbruch erzielte das Studio jedoch erst 1937 mit dem 70-minütigen „Schneewittchen“. Jetzt war man nicht mehr billiges Rahmenprogramm.

Vielleicht lässt sich so erklären, dass Disney 1965 in einem Interview Micky beschreibt wie ein Relikt: „Micky ist gerade nicht im Dienst. Ich beschäftige mich im Moment mit Spielfilmen. Ich mache nur noch wenige Kurzfilme. Das ist eine Sache der Vergangenheit, weil die Kinos keine Kurzfilme mehr spielen.“ Ein Star im Ruhestand.

Walt Disney unternahm nur einen Versuch, seine Figur neu zu positionieren. Es war „Fantasia“ aus dem Jahr 1940, genauer Mickys Auftritt darin als „Zauberlehrling“. Mickys Körper scheint keine Knochen zu besitzen und trotzdem sich menschlich zu bewegen. Er ist nicht grotesk überzeichnet, sondern handelt psychologisch motiviert. Die Animation gehört zu dem Besten, was in den Disney-Studios je entstand. Die extrem aufwändige, d. h. eben auch teure Darstellung von bewegtem Wasser wurde jahrzehntelang nie wieder in dieser Qualität erreicht.

„Fantasia“ ist ein Flop. Und der Vater scheint das Interesse an seiner Figur verloren zu haben. Sonst lässt sich ein Film wie „The Simple Things“ von 1953 nicht erklären, in dem Micky nur noch ein schlecht gezeichneter und banal inszenierter Hundehalter ist. Danach wird er zur Plüschfigur, zum Grüßaugust in den Vergnügungsparks und in der nach ihm benannten Fernsehshow, zum „bred and butter hero“, wie Disney ihn nannte.

In den USA wurde das Comic-Heft zeitweise wegen Erfolglosigkeit eingestellt. „Das lustige Taschenbuch 252“ feiert auf dem Cover Mickys 70. Geburtstag, im Band selber aber tritt er nur in zwei Geschichten auf, Donald hingegen in sieben. Die Popularität der übrigens vorwiegend in Italien gezeichneten Comics (und dies schon seit den 30er-Jahren) beruht auf der Ente. Zeichner zeigen nur mäßiges Interesse an Micky Maus, der keinen Sex haben oder sich nicht einmal wie Donald moralisch inkorrekt benehmen darf. Wegen der strikten Vorgaben meinte Disney-Animator Ward Kimball gar, „sie war die einzige Figur in unserer Besetzung, die nicht glaubhaft wirkte“.

Micky gleich Walt

Die väterliche Zuneigung Disneys zwängte die Figur in ein Korsett. Donald übernahm Züge des frühen Micky und knüpfte an seine Erfolge an. Micky Maus verlor seine spezifische Charakteristik und wurde zu einer zahmen Ikone. Wie eng Walt Disney sich der Figur verbunden sah, macht eine Aussage von 1947 deutlich: „He still speaks for me and I speak for him.“ Dann allerdings gratulierte er ihm zum 20. Geburtstag – womit er sich um ein Jahr irrte.