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Archiv-Artikel

Ohne Lügen keine Weltveränderung

Schriften zu Zeitschriften: Die „Vorgänge“ erkunden die Lüge, der „Mittelweg“ hinterfragt die Nachbarschaft

Der missglücktenTäuschung geht die Selbsttäuschung voraus

Lügen kommen einem leider meist ganz leicht und unversehens über die Lippen. „Diese unsere aktive, aggressive Fähigkeit, zu lügen, unterscheidet sich auffallend von unserer passiven Anfälligkeit für Irrtümer, Illusionen, Gedächtnisfehler“, beunruhigte sich schon Hannah Arendt in ihrem Aufsatz „Die Lüge in der Politik“.

Die von Gustav-Heinemann-Initiative und Humanistischer Union seit 1961 herausgegebene Zeitschrift Vorgänge hat Arendts Essay von 1971 jetzt erneut abgedruckt. Passend zur anstehenden US-Wahl geht es darin um amerikanische Kriegslügen. In den vom US-Verteidigungsminister McNamara 1967 geheim in Auftrag gegebenen und von der New York Times veröffentlichten Pentagon Papers kam damals zum Vorschein, dass die politische Klasse das Wahlvolk in Sachen Vietnamkrieg jahrelang systematisch belogen hatte.

Doch Arendt geht es nicht um moralische Verurteilung, sondern um Zusammenhänge. „Die bewusste Leugnung der Tatsachen – die Fähigkeit zu lügen – und das Vermögen, die Wirklichkeit zu verändern – die Fähigkeit zu handeln – hängen zusammen; sie verdanken ihr Dasein derselben Quelle, der Einbildungskraft“, räumt sie in ihrem Aufsatz ein. Lügen und die Welt verändern sind zwei Seiten einer Medaille. Handeln aber ist nach Arendt das eigentliche Werk der Politik.

So beschreibt sie das Scheitern einer Kriegspolitik, die sich in Abhängigkeit von wissenschaftlichen Denkfabriken und PR-Strategien vollständig entwirklicht hatte: „Was brauchten sie denn über Indochina, wie es wirklich war, zu wissen, wenn es nicht mehr war als ein ,Testfall‘ oder ein Dominostein, ein Mittel zur Eindämmung Chinas oder zur Demonstration der Existenz der mächtigsten unter den Supermächten?“ Die politischen Akteure seien zum Opfer ihrer eigenen Überzeugungskünste geworden: „Das Missliche am Lügen und Betrügen ist nämlich, dass die Wirkung ganz davon abhängt, dass der Lügner und Betrüger eine klare Vorstellung von der Wahrheit hat, die er verbergen möchte.“ Der missglückten Täuschung geht also die Selbsttäuschung voraus. Ein Freispruch zweiter Klasse. Kein amerikanischer Politiker hat das Format eines Machiavelli. Zudem glaubte Arendt an die demokratischen Gegenkräfte und erwartete, dass „unser Land infolge des Krieges die bessere Seite seines Wesens wiedergewinnen wird“. Das muss sich heute erst erneut erweisen.

Der Politologe Claus Offe hebt hervor, dass Politik keine ideologischen Interessengegensätze mehr verhandelt, sondern selbst die strategische Inszenierung von Wirklichkeit betreibt. Was bedeutet, dass es im politischen Geschäft nur noch auf die „Vermittlung von Bildern, Gewissheiten und sachlichen Entscheidungsprämissen“ ankommt, die, wenn sie einmal im Bewusstsein der Bürger verankert sind, deren Handeln und Unterstützungsbereitschaft wie von selbst in die erwünschte Richtung lenken. Ein Schelm, wer denkt, dass Michael Moore ganz anders wäre.

Die politische Lüge wirkt für Offe als eher erfreuliche Belebung. Sie kultiviert heilsamen Argwohn, „der das Gegenteil von Zynismus und selbst ein produktives Element einer demokratischen politischen Kultur“ ist. Denn politische Ehrlichkeit ist für Offe keine moralische Kategorie für einzelne Bürger und Politiker, sondern eine Eigenschaft institutioneller Systeme.

Die Oktober/November-Ausgabe des Mittelweg 36 widmet sich dem Verhältnis von Nachbarschaft und Gewalt in ethnischen Konflikten. Ob in Nordirland, auf dem Balkan oder in den Pogromen der Nazizeit – stets liegt über dem in Gewalt eskalierenden nachbarschaftlichen Verhältnis ein Schleier des Nichtverstehens: Wie werden gute Nachbarn zu Feinden? Jan Philipp Reemtsma dreht die Fragestellung kurzerhand um: „Was zähmt Nachbarschaften in Normalsituationen?“ Reemtsma behauptet: „Nachbarschaft ist eine Konfliktressource erster Ordnung.“ Denn die Nachbarschaftsgrenze sei eine psychische Repräsentanz der eigenen Körpergrenze. Gutnachbarschaftliche Beziehungen sind nichts als „die Abwehr katastrophischer Transformationen unabwendbarer Nähe“. Doch was löst die Gewalt aus? Da klingt bei Reemtsma ganz empirisch begründete Misanthropie heraus: „Es kommt darauf an, den ersten Schritt zu tun.“ Und selbstverständlich kommt es darauf an, mit der antizipierten Gegenwehr des anderen das eigene Handeln als reine Selbstverteidigung zu begreifen – sich also in die Tasche zu lügen.

JAN-HENDRIK WULF