: „Ich bin stolz, Europäer zu sein“
Deutschland begeht die amerikanische Wahlnacht mit zahlreichen Partys: In Berlin feiern viele den Verlierer, wenige den Sieger. Die meisten sich selbst
AUS BERLIN ROBIN ALEXANDER
Um zwei Uhr und fünfunddreißig Minuten ist der schönste Moment. Pennsylvania goes to Kerry, hat jemand auf der Leinwand gesagt und in der John-F.-Kennedy-Chill-out-Lounge in Berlin-Dahlem werden Beck’s-Flaschen gehoben und Kommilitonen geküsst.
Im Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin hat Kerry ein Heimspiel. Ganz wörtlich. Keine fünfhundert Schritte von hier, in einer feudalen Villa im Bachstelzenweg, hat der, der später in dieser Nacht knapp scheitern wird, zwei Jahre als Kind gelebt. Kerrys Vater war US-Diplomat in Westberlin. Der Sohn behauptet in einer Biografie, als Elfjähriger mit dem Fahrrad „aus Versehen“ durchs Brandenburger Tor in die sowjetische Zone geradelt zu sein – 25 Kilometer wären das gewesen. Für das Kind wohl weiter entfernt als für den Kandidaten das Weiße Haus.
Aber solche Details interessieren jetzt nicht. Pennsylvania ist gewonnen! Pennsylvania – ein Swing State. Einer der wahlentscheidenden Bundesstaaten bei den Präsidentschaftswahlen in den USA. Aber das braucht man hier im Studentenkeller niemandem zu erklären.
Es ist schon alles erklärt. Wirklich alles. Ein Professor für Soziologie, ein Doktor für Politik, ein anderer für Wirtschaft, eine amerikanische Filmemacherin, ein US-Wissenschaftler und gut zweihundert Studenten haben sich dicht gedrängt in einem für den Ansturm viel zu kleinen Raum stundenlang gegenseitig Amerika erläutert:
Die „cultural battle“ und den „gender gap“, den „financial conservatism“ der Demokraten und die „deficit policies“ der Republikaner. Mal wird deutsch gefragt, mal englisch geantwortet. Was immer man zu den USA sagen kann, ist hier schon gesagt worden. Nur eines nicht: Ich bin für Bush.
Fast alle Amerikanistik-Studenten haben schon ein Jahr in den USA verbracht. Den Vorwurf des Antiamerikanismus, der in den USA neuerdings gern gegen Einwände aus Deutschland erhoben wird, belächeln sie. Viele wedeln mit Stars-and-Stripes-Fähnchen, wenn Kerry eine seiner Hochburgen holt. Ihr Amerika ist eben nicht das von George W. Bush. Boston, New York oder das als Austauschort konkurrenzlos beliebte Seattle liegen längst näher an Berlin als an Austin/Texas.
Am weitesten entfernt von Bushs Heimatstadt ist an diesem Abend aber vermutlich der Tränenpalast. USA-Fahnen gibt es zwar auch. Aber die Pace-Regenbogenfahne der neuen Friedensbewegung dominiert. Eigentlich ist in dieser großen Halle in Berlin-Mitte die Abschlussparty der Initiative „Vote 44“. Eine Aktivistengruppe, die im Ausland lebende Amerikaner zur Wahl eines neuen, des 44. Präsidenten aufgefordert hat. Aber 80 Prozent des Publikums sind ohne Wahlrecht: Deutsche.
„Im Osten gibt es ja traditionell Vorbehalte gegen die US-Politik“, erzählt Neo Wonneberger, der in der DDR aufgewachsen ist. Am roten Pulli des 27-Jährigen prangt ein grüner „Vote 44“-Sticker. Aber er sagt: „Kerry ist doch sowieso nur das kleinere Übel.“ Wonneberger macht bei Attac mit, studiert Volkswirtschaft und ist in den Tränenpalast gekommen, „weil der Neoliberalismus überall gemacht wird, aber die USA die Spitze sind“.
Bush ist ein Kriegstreiber und ein religiöser Fanatiker, darüber können sich Ost und West und Links und Rechts und überhaupt jeder einigen. Michael Moores Fahrenheit 9/11 mag in den Staaten kontrovers sein. Bei uns lief er am Montag auf Pro 7.
Den magischen Moment von Pennsylvania – als es so aussieht, als würde Bush tatsächlich verlieren – verpassen die Leute im Tränenpalast, weil auf den drei extra aufgestellten Leinwänden noch immer Wim Wenders’ sehr langer Film „Land of Plenty“ läuft. Dann treten „gegen Bush engagierte Künstler“ auf.
Protestsongs werden gesungen und Bongotrommeln geschlagen, aber der Engagierteste von allen ist der Italiener Leo Bassi. In einem deftigen Vortrag stellt der dicke Kleinkünstler, der sich über und über mit Coladosen behängt hat, Zusammenhänge dar: Ohne das Attentat von Madrid würde in Spanien noch „der Faschist“ Aznar regieren. Und ohne den Widerstand im Irak stünde Bush besser da. Bassi: „Ist der Terrorismus manchmal nützlich? Große Frage.“
Unter donnerndem Applaus redet er sich immer mehr in Rage. Er beginnt die Coladosen an seinem Körper aufzustechen. In spritzender Cola hopst er wie ein Derwisch umher: „Ich bin stolz, Europäer zu sein. Ich bin stolz, Italiener zu sein.“ Als Abschluss seiner glitschigen Performance schlägt er mit einem riesigen Hammer auf eine volle Dose Cola light. Die platzt.
Doch neben all den vielen Kerry-Fans haben sich in dieser Nacht auch Anhänger des wahrscheinlich wiedergewählten US-Präsidenten zusammengefunden – wie fast jeden Abend im Café Sulav, einem irakischen Treffpunkt in Neukölln, dem arabischsten Bezirk der Hauptstadt.
Hier gibt es keine Fahnen, keine Partystimmung und keine Polemik. „Alle hier hoffen, dass Bush gewinnt“, sagt Sami Mashjil, der 25 seiner 51 Lebensjahre in Deutschland verbracht hat: „Keiner weiß, was Kerry will, oder? Zieht er die Truppen ab, bricht der Bürgerkrieg aus.“
Mashjil, der auch im gerade laufenden Ramadan zu gezuckertem Tee gern einen Johnny Walker trinkt, war im Februar in Bagdad, die meisten Männer hier schicken regelmäßig Dollars an ihre Familien. Aber als der junge Wirt Ferras Adnan kurz vor Mitternacht von Fußball-Champions-League auf Wahlberichterstattung umschaltet, wenden sich die Männer schnell dem Karten- oder Domino-Spielen zu. Wenig später leert sich das Cafe. Für die Deutsch-Iraker ist die US-Wahl kein Event.
Nur einmal haben sie im Sulav vor dem Bildschirm getanzt: am Tag, als die große Saddam-Statue stürzte. Auf den Tischen haben sie gestanden, erzählt Mashjil, und in die Mikrofone britischer Journalisten gesungen. Doch die Party war vor Mitternacht zu Ende. Die palästinensischen Nachbarn hatten sich bei der Polizei wegen Störung ihrer Nachtruhe beschwert.