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Archiv-Artikel

„Ratte, Alfred. Und dazu einen Roten“

Es muss nicht immer Haifischsteak sein: Die neue Bescheidenheit macht vor der Küche nicht Halt

Titten. Tiere. Hitler – diese drei gehen immer. So lautet eine schlechte alte Boulevardweisheit, die bei BamS, BimS, BumS und Crismon erzählt wird. Wie fast alles, was dort erzählt wird, ist sie leider wahr: Neulich verhandelte ich an dieser Stelle, ob es okay wäre, in einem Restaurant ein Haifischsteak zu bestellen. Mich erreichten Leserzuschriften in ungewöhnlicher Menge – nicht nur von Greenpeace oder den christlichen Tierfreunden.

Eine Leserin wollte wissen, wo Haifischsteaks zum „sensationellen Kampfpreis“ von 6,50 Euro „weggeschenkt“ werden. Eine andere merkte an, sie liebe es, sich schon beim Frühstück Gedanken über das Abendessen zu machen: Die Vorstellung eines Haifischsteaks bringe sie über den Arbeitstag.

Sogar einer der beiden stellvertretenden Chefredakteure kam im Rahmen einer Festivalität überraschend auf mich zu, klopfte mir huldvoll anerkennend auf die Schulter und sprach voll väterlichen Wohlwollens: „Aber du brauchst echt mal ein anderes Foto!“

Erfolg, du schmeckst süß!

Tiere gehen gut. Mehr davon also. Zum Beispiel: Ist es okay, Ratten zu essen? Jetzt denkt sich mancher Leser bestimmt: „Na, die Frage drängt sich ja nun nicht direkt auf!“ Gemach, gemach.

Zugegeben: Lokale, die für spaghetti ratto, rat au vin oder fried ratlegs werben, sind selbst in den Zeiten von BSE eher die Ausnahme in bundesrepublikanischen Innenstädten geblieben. Lieber ließ man Straußensteak, Gnuschulter und Krokodilbauch einfliegen. Auch widerstehen selbst die genusssüchtigsten Hedonisten der Versuchung, Ratte zu bestellen. Noch.

Doch bald wird ein Sternekoch in einer Kolumne für das SZ-Magazin das „lang unterschätzte, kulturell zu Unrecht schlecht angesehene und erstaunlich cholesterinarme Rattenfleisch“ entdecken. Es wird dann nicht lange dauern, und dieser Geheimtipp wird von einer Kulturprominenten bei Biolek popularisiert:

„Was hast du uns denn Leckeres mitgebracht, Elke?“

„Eine Ratte, Alfred.“

„Mmmmh. Dazu habe ich hier einen ganz leichten Roten …“

Gerade in Kreisen, die Wert auf bewusstes, auch ethisch anspruchsvolles Genießen legen, haben Rattengerichte eine große Zukunft. Warum? Sind Ratten weniger wichtig für unser Ökosystem als Haifische und Delphine? Ist es gerecht, Bruder Fisch zu schonen und Schwester Ratte zu jagen? Oh ja! Denn Ratte essen ist grundgut.

Erstens: Ratte ist Slowfood, man muss sie lange und geduldig kochen, damit sie nicht zäh schmeckt. Und um die Keime abzutöten.

Zweitens: Ratte stärkt die regionalen Wirtschaftskreisläufe, sie muss nicht aus Übersee eingeflogen werden, sondern man kann sie aus jedem Keller in Kanalisationsnähe fangen. Für ein Kilo Ratte müssen nicht zwanzig Kilo Getreide verbraucht werden, das dann in Afrika fehlt. Und McDonald’s holzt mitnichten das letzte bisschen Regenwald am Amazonas ab, um Weideflächen für seine Ratten zu gewinnen.

Drittens: Wie jede gesunde Speise wird die Ratte nicht entdeckt, sondern wiederentdeckt werden. Haben nicht schon unsere Urgroßeltern im Hungerwinter 1917 manchmal …? Was Oma noch wusste!

Zusammenfassung: Ratte essen ist auf jeden Fall okay.

Deshalb ist Ratte essen auch mehr als ein kulinarischer Trend: Es ist ein schöner Ausdruck des Zeitgeists. Ratte passt zur neuen Bescheidenheit. Wer Ratte auf den Teller bekommt, dem fällt das Gürtel-enger-Schnallen nicht schwer. Der Kanzler selbst geht mit gutem Beispiel voran und verzehrt täglich vor Fotografen eine Curry-Ratte. Schließlich werden auch Skeptiker folgen: Bald kommt täglich Ratte auf den Tisch. Nur an Freitagen nicht: Da gibt es Qualle.

Leckere Rattenrezepte?kolumne@taz.de