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Archiv-Artikel

„In den USA regieren Hysterie und Panik“, sagt Herr Taylor

Die US-Politik ist nach dem 11. September aus dem Ruder gelaufen – das passiert öfter und geht auch wieder vorbei

taz: Herr Taylor, beim Thema „der Westen und der Islam“ gibt es einen auffälligen Zwiespalt. Einerseits will man durch Dialog die Antagonismen abbauen – andererseits heißt es forsch, es kann keinen Kompromiss mit dem Konzept des Dschihad geben. Was meinen Sie?

Charles Taylor: Die Positionen sind nicht so unversöhnlich, wie sie scheinen. Zivilisationen sind doch keine statischen Dinge, die über die Jahrhunderte unverändert bleiben. Wir wissen, dass auch die Vorstellung von Dschihad ein recht komplexes Konzept ist. In der gleichen Gegend, in der heute der militante Islam dominiert, in Pakistan, war zu den Zeiten, als Ghandi in Indien sich auf den Weg machte, eine pazifistische „ghandische“ Variante des Islams entstanden. Dessen Vordenker haben ihre Gewaltfreiheit auch Dschihad genannt.

Manche im Westen meinen, der Islam als solcher ist demokratieunfähig, während im westlichen Christentum die Trennung von Kirche und Staat schon in den theologischen Urspüngen angelegt war – gleichsam bei Paulus und seinen „zwei Reichen“.

Darin ist etwas Wahres. Das hat mit der Entstehung dieser Religionen zu tun. Das Christentum entstand als Untergrundbewegung, der Islam als machtvolle Umma. Aber die Vorstellung, dass dies unveränderbar bleibt, ist wiederum eine essenzialistische Verirrung. Mit ähnlichem Recht hätten vor zweihundert Jahren die Protestanten sagen können, die Katholiken werden für immer unfähig zur Demokratie bleiben. Natürlich gibt es in islamischen Gesellschaften ganz unsympathische Figuren. Aber, entschuldigen Sie – wir haben George W. Bush!

der seinerseits religiös übercodiert argumentiert, wenn er von „unserer Mission“ spricht.

Sogar das Wort „Kreuzzug“ hat er in den Mund genommen!

Welchen Einfluss hat das Fiasko im Irak auf die US-Öffentlichkeit?

Da hat ein tiefes Nachdenken eingesetzt. Es ist Bush ja gelungen, die US-Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Saddam am 11. September die Finger mit im Spiel hatte. Das hält sich hartnäckig im Bewusstsein der US-Amerikaner. Bisweilen geraten die Amerikaner in eine Art spastischen Patriotismus, der von Hysterie und Panik bestimmt ist. Erinnern wir uns nur an die Zeit des McCarthyismus. Heute sind wir in einer besseren Lage als zu McCarthys Zeiten, heute gibt es mehr und vernehmbarere dissidente Stimmen. Alle Erfahrung zeigt, dass solcher Wahnsinn in den USA regelmäßig ausbricht – aber auch recht schnell wieder vorbeigeht.

Die Amerikaner neigen dazu, sich chronisch bedroht zu fühlen und panisch zu reagieren. Warum?

Das ist tief in der amerikanischen politischen Kultur verwurzelt. Das hat mit ihrem Selbstbild zu tun, mit etwas tief Messianischem. „Wir sind die letzte gute Hoffnung“, hieß es in Lincolns Worten. Das kann sehr idealistische, positive Auswirkungen haben, aber auch sehr negative Folgen, wenn daraus ein Kampf des Guten gegen das Böse wird. Die andere Seite des Idealismus sind eben Leute wie Bush. Auch andere Nationen kennen solche Massenpsychosen – in Europa hat man damit im 20. Jahrhundert schreckliche Erfahrungen gemacht.

Aus denen man klug wurde?

Hyperpatriotismus in Europa zieht nicht mehr so. In den USA ist das anders. Die USA haben zwar die Erfahrung von Vietnam und das Bewusstsein, dort einen Fehler gemacht zu haben. Aber der US-Patriotismus ist dadurch im Grunde nicht beschädigt worden.

Laufen die USA Gefahr, im Irak Vietnam zu wiederholen?

In gewissem Sinne ja. Den Vietnamkrieg haben ja nicht die Proteste in den USA beendet. Die USA sind aus Vietnam abgezogen, weil ihnen Verluste von 50.000 Toten zugefügt wurden. Heutzutage bräuchte es sicher nicht 50.000 Tote. Wenn die durchschnittlichen Verluste dieser Tage eine längere Zeit weitergehen, dann werden die Leute sagen: raus da!

Können Sie sich vorstellen, die USA verlieren den Krieg?

Sicher. Das ist es ja, worauf Leute wie Saddam setzen: dass Demokratien hohe Opferzahlen politisch nicht akzeptieren können. Eigentlich müssen Widerstandsgruppen, wie sie zurzeit im Irak aktiv sind, wenig tun, um zu gewinnen. Sie müssen die US-Armee nicht besiegen. Es reicht, wenn eine kleine Minderheit es schafft, sich lange genug zu halten und dem Gegner empfindliche Verluste zuzufügen.

Was wäre die Konsequenz?

Das ist sehr schwer zu sagen. Ein Auseinanderbrechen des Irak wäre sehr wahrscheinlich. Die Konsequenzen in der Region sind absolut unkalkulierbar.

Und die globale Autorität der USA wäre ramponiert.

Oh ja, das wäre dasselbe wie in den Jahren nach Vietnam. Das wäre nicht die schlimmste Konsequenz. Die USA müssen diese Lehre durchmachen, und das geht wohl nicht ohne solche Erfahrungen. Es ist natürlich bitter: Denn um eine stabile und demokratische Weltordnung zu schaffen, brauchen wir die USA. Das geht nicht gegen die USA.

Eine tragische Situation?

Ja. Andererseits: Schon jetzt ist das ganze „Achse des Bösen“-Zeug, dieses Konzept vom Präventivkrieg passee. Die Amerikaner lernen wieder, Teamplayer zu sein. Das hört man aus Wortmeldungen der Bush-Leute heraus. Selbst die Bush-Regierung ist fähig, etwas zu lernen.

INTERVIEW: ROBERT MISIK