: Im Fahrstuhl mit Honecker
Es lohnt sich durchaus, auf die Bücher im Ramsch zu achten, es sind nicht die schlechtesten, die dort landen. Mit etwas Glück findet man dort auch Klaus Schlesingers Buch „Fliegender Wechsel“ und spart gegenüber dem Neubuch
„In der Stargarder, dritter Stock – ein verrottetes Hinterhaus in einem verrotteten Viertel, dessen Verfall nicht mehr aufzuhalten scheint.“ Eine Tagebuchaufzeichnung aus den frühen 80ern. Noch als sie 1990 veröffentlicht wurde, war nicht abzusehen, dass es einmal anders kommen würde. Der Satz stammt aus einem Tagebuchband von Klaus Schlesinger mit Aufzeichnungen aus den Jahren 79 bis 82. Zwar finden sich darin Erfahrungen beschrieben, die dem Rest des Landes noch bevorstanden, aber davon wollte noch niemand etwas hören.
„Einmal DDR-Autor, immer DDR-Autor“, hatte man ihm prophezeit. Fast rührend, wie er eine Begegnung mit Erich Honecker schildert. Am Tag, als Schlesinger endlich das Visum für sich und die Familie bekommt, trifft er ihn im Fahrstuhl seines Hauses, Honeckers Tochter wohnte ein paar Etagen höher. Honecker: „Hat’s geklappt?“ Schlesinger spürt den Zwang, das Einverständnis zu sprengen, ihm fällt aber nichts anderes ein, als die Frage: „Kann’s nicht mal besser werden?“ Honecker nachdenklich: „Es stürmt ja überall auf der Welt. Andere sind doch zufrieden.“ Beim Aussteigen wünscht er ihm noch viel Glück.
Zum Tagebuch hatten ihm Freunde geraten, die schon vorher in den Westen gegangen waren. Denn in wenigen Wochen hätte man sich an alles gewöhnt und „das Ländchen“ vergessen. Er führt in Westberlin eine provisorische Existenz, seine Bücher sortiert er gar nicht in die Regale ein. Das Visum gilt nur für drei Jahre und die Entscheidung, ob er ganz wegbleiben wird, schiebt er vor sich her. Sie ist ihm auch eigentlich nicht möglich. Den Osten hatte er körperlich nicht mehr ertragen, Selbstmorde von Freunden, Alkoholismus und psychosomatische Reaktionen. Nachdem er bei dem zunächst hoffnungsvoll gestarteten Projekt einer sozialistischen Illustrierten gefeuert worden war, erkrankte er an einer Lähmung, Krankheit als Metapher. Im Westen dagegen fehlt dem Schreiben der Grund: „Schreibschwierigkeiten durch den Verlust des Eingebundenseins in der Gesellschaft? Was bleibt hier? Das Feuilleton? Der Klassiker-Standpunkt? Der Selbst-Beweis?“
Er beginnt zwischen beiden Stadthälften zu pendeln. Im Osten genießt er die Lust, den Widerspruch zwischen Ideologie und Wirklichkeit auch literarisch zu verarbeiten: „Wann immer ich in den Osten fahre, habe ich Einfälle über Einfälle. (…) das liegt auch daran, dass die Leute im Osten immer etwas zu erzählen haben.“ Außerdem vermisst er das normale Leben dort: „Und das Grau der Fassaden, vor einem Jahr noch als einförmig und bedrückend wahrgenommen, ist die pure Erholung. Seltsame Umkehrung …“
Viele spätere Wendegemeinplätze hat er schon damals beschrieben, zum Beispiel dass man sich im Westen den Rücken reibt, statt sich die Hand zu geben. Oder die Schwierigkeiten beim Flirten. Im Osten sei man immer leicht in die Wohnungen gekommen, auch bei Frauen. Im Westen verbringt man jeden Abend in der Kneipe, trinkt und raucht bis in den Morgen, längst zu müde für Avancen.
Schlimmer ist allerdings das Gefühl, auch beruflich vom Regen in die Traufe geraten zu sein. Beim Fernsehen lehnt man seine Stoffe ab, sie seien zu nachdenklich: „Wir brauchen positive Helden.“ Dieselben Worte hatte er schon von der DDR-Zensur gehört. Überhaupt ist ihm das Schreiben unter Marktbedingungen zuwider. Die Autoren würden eine jämmerliche Existenz führen, viele würden ihre Lesereisen mit Nervenzusammenbrüchen abbrechen.
Auf der Suche nach einer Alternative flüchtet er sich in die Hausbesetzerszene und beschreibt die ersten Räumungsaktionen. Am meisten Spaß macht ihm noch die Arbeit bei der taz, obwohl sie: „… nichts, aber auch gar nichts einbringt. Eigentlich ist die Arbeit nutzlos. Die Linke interessiert sich nicht für Literatur.“
Mitte der 80er bricht er das Tagebuch ab, weil sich alles zu wiederholen scheint: „Plötzlich redete die Werbung so, wie vorher nur die Subkultur.“ Mitten in die Arbeit an einer parallelen Ausgabe in Ost und West platzt die Wende.
Ein besonderer Reiz liegt in den eingestreuten Erinnerungsschüben. Der Werdegang in der DDR vom Arbeiterkind zum Oppositionellen. Die Lehrzeit in einer Schichtpressstoff- und Kondensatorenfabrik in Weißensee. Der Aufstieg zum studierten Chemielaboranten. Wie man als Kind des Prenzlauer Bergs über seinen Bezirk gedacht hat: „Fortschrittlich sein hieß, in unseren Kreisen, den Swing lieben und die Chemie, hieß Kernkraftwerke statt Wasserstoffbomben, hieß Neubau statt Mietskasernen, hieß Asphalt statt Kopfstein. Mitte der Fünfziger war der flächendeckende Abriss des Prenzlauer Bergs für mich eine unbestrittene, vernünftige Lösung.“
Ein Mensch, der sich nicht raushalten konnte. Mit 66 starb er an Leukämie. Ewig leben immer nur die Falschen. Bedrückend, dass statt solcher komplexen Zeugnisse wie „Fliegender Wechsel“ heute Schmonzetten à la „Good Bye, Lenin!“ das Deutungsmonopol über die Vergangenheit übernommen haben.
JOCHEN SCHMIDT
Klaus Schlesinger: „Fliegender Wechsel“. Hinstorff Verlag, Rostock 1990 (2 € im Ramsch)