: Empors Ende
Vor fünfzig Jahren wurde ein kleiner Fußballverein aus dem Erzgebirge, Empor Lauter, nach Rostock delegiert, weil es die Partei so wollte
VON MARKUS VÖLKER
Der Bus ging in aller Früh. Halb sechs fuhr er die Spieler nach Rostock. Zwölf Kicker hatten sich entschieden zu gehen. Sie stiegen als Mitglieder Empor Lauters in den Bus. Als sie in Rostock ankamen, waren sie Spieler des SV Empor Rostock, dem Vorgänger des FC Hansa. Das Dutzend war delegiert worden. Rostock brauchte eine Oberligamannschaft, ein Team, das in der höchsten Spielklasse der DDR antrat. Die Meinung vertrat zumindest Harry Tisch. Der Chef der SED-Bezirksleitung Rostock war im Erzgebirge fündig geworden. Die Rochade konnte beginnen. Empor Lauter hieß das Objekt seiner Begierde.
Empor spielte guten Fußball, ein kleiner Verein, der nun zu Höherem berufen sein sollte. Harry Tisch setzte die Verpflanzung Empors durch; Dokumente gibt es über diese Anordnung heute keine mehr. Im Sommer 1954 wurde der Plan umgesetzt. Lauters Coach machte seinen Spielern in Einzelgesprächen das Vorhaben des Parteioberen schmackhaft. Der Trainer lockte mit höheren Gehältern, komfortablen Wohnungen und besseren sportlichen Perspektiven. „Die Leute sind auf Teufel komm raus geködert worden mit tollen Versprechungen“, sagt Reinhard Weidauer, ein Anhänger der verschwundenen Mannschaft. „Ich bin zu jedem Spiel gegangen, damals waren manchmal 20.000 Zuschauer in Schwarzenberg, dem Spielort, aber nach der Sache schauten nur noch 60 zu.“ Empor wurde umbenannt in Motor. Der Verein fand sich im Niemandsland des Fußballs wieder. In der Kreisklasse. 50 Jahre ist das her.
Weidauer spricht von einer Nacht-und-Nebel-Aktion, die seinerzeit abgelaufen sei. „Das hat ja gar niemand gewusst von uns, es gab zwar Gerüchte, dass die rauf nach Rostock machen, aber so richtig wusste keiner, was die vorhatten. Plötzlich waren die Spieler fort, und wir sind aus allen Wolken gefallen.“ In Lauter habe es keinen Aufstand gegeben, Resignation habe sich vielmehr breit gemacht unter der Schar der Anhänger, viele wollte keinen Ball mehr rollen sehen. Weidauer hat den Weggegangenen nicht mehr nachgeblickt. „Ich habe mich nicht mehr um Rostock gekümmert, ich habe Niederlagen von denen sogar mit Schadenfreude begleitet.“ Wie so viele in dem Ort, dem der Fußball genommen wurde.
Zu Hause geblieben ist Karl Bochmann. Er ist nicht in den Bus gestiegen. Er spielte 1954 in der Reservemannschaft des Oberligateams, war 17 Jahre alt. „Die haben uns ganz schön geschmiert“, sagt er. Er sei aber aus familiären Gründen geblieben, wenngleich der Reiz groß gewesen sei, die einheimischen Fans im Stich zu lassen. Bochmann, der Mittelläufer, kickte weiter in Lauter, ganz unten. „Wir waren plötzlich nur noch ein kleines Häufchen, die hatten uns ja praktisch nichts gelassen. Wir hatten das Gefühl, uns sei etwas gestohlen worden.“ Viele seien verbittert gewesen und hätten sich vom Fußball abgewendet, erinnert sich Bochmann.
Er hat die Leitung der Betriebssport-Gemeinschaft Motor in den Folgejahren übernommen und die Vergangenheit ruhen lassen, soweit das möglich war. Vor zehn Jahren ist die alte Geschichte wieder ans Licht gekommen. Funktionäre des Vereins, der sich heute Lauterer SV Victoria nennt und in der Kreisklasse Aue-Schwarzenberg nach einem Sieg gegen Olympia Grünhain auf Platz sechs steht, wollten 1994, dem 40. Jahrestag der Verschickung, Schadensersatz beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) beantragen, sozusagen als ein Opfer der Funktionärswillkür. Den Antrag haben sie aber nie losgeschickt. Ihnen schien die Aussicht auf Erfolg zu gering.
Karl Bochmann hat im Juli dieses Jahres die Geschehnisse des Oktobers 1954 noch einmal durchlebt. Der FC Hansa Rostock hatte die Veteranen Lauters nach Auerbach im Vogtland eingeladen, wo der Bundesligist ein Turnier bestritt. Bochmann traf mit den „Abtrünnigen“ zusammen, Hansa überreichte eine Spende über 1.954 Euro an Victoria. „Es hat kein böses Blut mehr gegeben, das Versöhnungstreffen lief eigentlich sehr gut“, sagt Bochmann, der 69-Jährige. Rostock gelobte, sich weiterhin engagieren zu wollen. Und Bochmann versichert: „Ich war natürlich kein Fan Rostocks, aber weil sie sich nun um Lauter kümmern wollen, wünsche ich ihnen, dass sie die Liga halten.“ Rostock steht derzeit auf dem letzten Tabellenplatz. Da bekommt selbst Karl Bochmann ein bisschen Mitleid.
MARKUS VÖLKER (33), aufgewachsen in Erfurt, ist Sportredakteur der „Berliner Zeitung“