: Die DDR auf der Überholspur
Während die Annäherung Osteuropas an die EU extrem schnell verlief, geht esbei der Türkei ungewöhnlich langsam voran. Die Konsequenzen könnten fatal sein
ISTANBUL taz ■ Sommer 1963. Auf Vorschlag der deutschen CDU-Regierung und unter Anleitung von Außenminister Walter Hallstein handelt die damalige EWG mit der Türkei ein Assoziierungsabkommen aus. Ziel ist eine baldige Zollunion und letztlich die Vollmitgliedschaft der Türkei. Zwei Jahre zuvor war in Berlin die Mauer gebaut worden. Dass die DDR, beziehungsweise die Menschen der DDR, jemals Mitglieder der damaligen westeuropäischen EWG werden könnten, schien selbst den größten Optimisten für die nächsten Generationen undenkbar.
Dreißig Jahre später war es dennoch so weit. Aus der DDR sind die neuen Länder geworden, der Anschluss an die BRD vollzog sich im Rekordtempo und nur wenig später war die industrielle Basis der früheren DDR auch Geschichte. Stillgelegte Betriebe pflasterten den Weg nach Westen.
Anders in der Türkei. Im Umbruchjahr 1989 lehnte die EU-Kommission einen Antrag der türkischen Regierung, mit den Verhandlungen über eine Vollmitgliedschaft zu beginnen, ab. Es dauerte bis 1995, bis zumindest das erste Ziel des Assoziierungsabkommens von 1963 realisiert wurde. EU und Türkei einigten sich auf die Zollunion – zu Bedingungen, die für die Türkei fast so verhängnisvoll waren wie der BRD-DDR-Einheitsvertrag für die DDR-Industrie.
Was gegenüber der Ex-DDR eindeutig zu schnell ging, dauert im Verhältnis mit der Türkei eindeutig zu lange. Der Vertrag über die Zollunion wurde in Ankara in der Erwartung unterzeichnet, dass es zügig zu Verhandlungen über eine Vollmitgliedschaft kommt. Stattdessen entschied die EU 1997 in Luxemburg, Verhandlungen mit zehn osteuropäischen Staaten zu beginnen. Seitdem im Dezember 1999 der Türkei der Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt wurde, sind noch einmal fünf Jahre vergangen, bis die EU-Staatschefs in diesem Dezember über den Beginn von Beitrittsverhandlungen entscheiden wollen.
Allerdings nur unter erheblichen Vorbehalten. So es im Dezember überhaupt zu einer positiven Entscheidung kommt, wird in dem Beschluss festgeschrieben werden, dass damit keinesfalls eine zukünftige Vollmitgliedschaft garantiert ist. Vielleicht kommt es ja anders, viele konservative Parteien in der EU bevorzugen eindeutig eine Beziehung unterhalb der Vollmitgliedschaft. Kommt es zu Irritationen, kann die EU-Kommission die Verhandlungen suspendieren oder auch ganz abrechen.
So schnell man die ehemalige DDR und die anderen osteuropäischen Länder ökonomisch geschluckt hat, so deutlich sind die Vorbehalte, ob der türkische Brocken nicht entschieden zu groß und vielleicht unverdaulich ist. Das ist nicht unbedingt eine folgerichtige Konsequenz aus den Erfahrungen der EU mit der DDR und Osteuropa, sondern Ausdruck einer großen Ambivalenz und inneren Zerstrittenheit.
Für die türkische Ökonomie kann das im schlechtesten Fall sehr weitreichende fatale Konsequenzen haben. Statt sie zu schnell zu schlucken, werden die politischen Rahmenbedingungen, die die Voraussetzung für Stabilität, Wachstum und spätere Integration sind, nur zögerlich hergestellt. Vielleicht zu zögerlich. Bleiben die EU – Perspektiven der Türkei weiter im Ungewissen, befürchten Experten einen ökonomischen Kollaps in den folgenden Jahren.
JÜRGEN GOTTSCHLICH