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Archiv-Artikel

2,5 Millionen Mal arm

Kinderhilfswerk legte „Kinderreport Deutschland 2004“ vor: Durch Hartz IV steigt Risiko, an den Rand gedrängt zu werden. Neue Rezepte sind die alten: Jobs für Alleinerziehende und Kita-Plätze

VON SIMONE SCHMOLLACK

Kinderarmut nimmt in Deutschland immer weiter zu. Im kommenden Jahr werden rund 2,5 Millionen Kinder – das ist jedes zehnte Kind – an der Armutsgrenze leben. Das ergaben Berechnungen des Deutschen Kinderhilfswerks (DKHW), das am Montag den „Kinderreport Deutschland 2004“ vorlegte.

Der Bericht, der zum zweiten Mal erschien und alle zwei Jahre herauskommt, fasst verschiedene bekannte Studien zur sozialen, gesundheitlichen und bildungspolitischen Lage von Kindern in Deutschland zusammen.

Die Zahlen sind nicht überraschend, erschreckend sind sie allemal. Heute erhalten 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren Sozialhilfe, das sind 37 Prozent aller SozialhilfeempfängerInnen. Die Hälfte von ihnen lebt bei allein erziehenden Müttern. Der Anteil von Kindern, die Sozialhilfe beziehen, ist in den letzten zehn Jahren überproportional gestiegen. Je jünger sie sind, desto stärker sind sie gefährdet, eine ungebrochene Sozialhilfekarriere zu gehen.

Im krassen Gegensatz zu den Armutszahlen steht die Kaufkraft von Kindern. Vor allem die Handy-, Textil- und Fastfoodbranche hat die Jüngeren im Visier. Diese Diskrepanz zeigt deutlich, welche Auswirkungen Arbeitslosigkeit heute hat. Schließlich ist die häufigste Ursache dafür, an die Armutsgrenze zu geraten, ein fehlender Job.

Armut bei Kindern und Jugendlichen ist ein Kreislauf, der nicht selten in der pränatalen Phase beginnt, wenn zum Risiko Perspektivlosigkeit die Risiken Rauchen und Alkohol hinzukommen. Später werden die Kinder vor dem Fernseher „geparkt“, mit Fastfood ernährt und fett. In der Schule sind sie ausgeschlossen, weil sie keine Markenkleidung tragen, nicht an der Klassenfahrt teilnehmen und kaum über soziale Kontakte verfügen. Sie schämen sich für ihre Armut und verschweigen sie. Klischees, die keine sind, sondern Realität, wie der „Kinderreport“ erneut bestätigt.

Viele arme Eltern sind nicht nur finanziell, sondern vor allem im Alltag überfordert. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) bezeichnete dies auf der Pressekonferenz als „klassische Straßenkindheit“.

Im Osten liegt die Zahl der Betroffenen nach Aussage von Thomas Olk, Armutsforscher und Pädagogikprofessor an der Universität Halle-Wittenberg, leicht unter der im Westen. Ursache dafür ist die jahrelange Erwerbstätigkeit von Vater und Mutter sowie ein noch immer ausgefeilteres Kinderbetreuungssystem.

Grund für die explosiv steigenden Zahlen sind vor allem die Einschnitte durch Hartz IV, sagte Olk. Bisherige BezieherInnen von Arbeitslosenhilfe werden dann Arbeitslosengeld II in Höhe der Sozialhilfe bekommen.

So bekannt die Ursachen für Armut generell und Kinderarmut speziell sind, so alt sind die Vorschläge für Gegenmaßnahmen: Jobangebote für Alleinerziehende und wohnortnahe Betreuungsmöglichkeiten, die über die bloße „Verwahrung“ von Kindern hinausgeht, sportliche, bildende, soziale und gesundheitsvorsorgende Angebote.

Das Kinderhilfswerk will mit seinem Bericht dazu beitragen, die Lage von Jüngeren zu verbessern, wie DKHW-Präsident Thomas Krüger sagte. Kinderpolitik muss Querschnittspolitik sein, forderte Thierse, und nannte die skandinavischen Länder mit ihrer höheren Frauenerwerbsquote sowie umfassenderer Kinderbetreuung als beispielgebend.

So löblich die Absicht des „Kinderreports“ ist, so wenig wird von ihm vermutlich Notiz genommen. Seit Jahren beklagen Sozial-, Kinder- und Frauenverbände steigende Armutszahlen und warnen vor den nachhaltigen Folgen, die jetzt durch das Rentenproblem akut werden. Die Veröffentlichung der aktuellen Armutszahlen lässt einen Aufschrei durch das Land gehen, der morgen wieder vergessen ist.

SIMONE SCHMOLLACK (40), gebürtige Berlinerin, arbeitet als freie Autorin in der Stadt und wollte schon immer mal hinter die Kulissen der taz schauen