Was vom Soldaten übrig blieb

AUS MÄRKISCH BUCHHOLZ THOMAS GERLACH

Nein, sie habe derzeit keine Knochen in der Waschküche liegen, wiegelt Erdmute Labes am Telefon ab. Die Pastorin lebt im Pfarrhaus von Märkisch Buchholz, 50 Kilometer südlich von Berlin, und bekommt von fremden Leuten gelegentlich Knochen hingelegt. Menschenknochen. „Das ist eben noch nicht vergangen“, sagt sie etwas später in ihrem Amtszimmer mit Blick auf Kirche und Marktplatz. Auf dem Tisch liegen ein Umbettungsprotokoll und eine Erkennungsmarke mit Durchschuss. „Res. Flakbatterie“ ist eingeprägt.

Nein, da ist noch nichts vergangen, solange Erdmute Labes von Militariasammlern, die durch die Wälder streifen, immer wieder unauffällig Knochen in die Waschküche gelegt werden, die sie dann auf dem „Waldfriedhof“, dem größten deutschen Soldatenfriedhof, im Nachbardorf Halbe bestattet.

Der Krieg ist noch nicht vorbei. Es müsste noch aufgeräumt werden ringsum. Waffen und Munition müssten eingesammelt und vernichtet werden. „Die Waldbrände im Sommer, das kommt alles von der Munition“, sagt Erdmute Labes. Die Feuerwehr fährt da nicht rein. Selbst die Bäume sind kaum zu gebrauchen, die nimmt kein Sägewerk ohne Prüfung durch Detektoren. Eine Kugel im Holz kann das ganze Sägegatter zerfetzen.

Woanders, in den ostdeutschen Städten, werden die letzten Lücken geschlossen, die die Bomben gerissen haben, im Berliner Reichstag sind die Inschriften der russischen Soldaten freigelegt und im Kino läuft der „Untergang“. In Märkisch Buchholz genügt ein Blick aus dem Pfarrhausfenster.

Das war mal eine Stadt, eine kleine zwar, aber eine mit Kirche und artig angelegtem Marktplatz, Rathaus, kleinen Läden. Bis zum 26. April 1945. Seitdem ist die Stadt ein zerrissener Leib, notdürftig geflickt mit Pflastersteinen, Blumenrabatten und Gras. Häuser stehen da, aber wie? Selbst der Gasthof „Goldener Hirsch“ wirkt wie ein Fremdling bei so viel Leere. Wer heute bauen will, muss zuerst den Munitionsbergedienst rufen.

Als wolle sich die Hausherrin behaglichere Gedanken machen, ist das Amtszimmer fast zu gut geheizt, wird das Teeservice hinter Glas präsentiert und eine weiße Tafel mit allerlei Glückwünschen erinnert an den 60. Geburtstag. Aber wie soll etwas vergehen, wenn in den Wäldern ringsum zehntausende Menschen seit fast 60 Jahren unter dem Moos liegen wie abgeknalltes, verendetes Wild? Noch mindestens 40.000 Tote, heißt es, müssten noch geborgen werden.

Mehr Tote als Lebende

Man kann nicht sagen, dass die Bergung der Toten ein drängendes politisches Ziel wäre. Auch nicht nach dem Besuch Gerhard Schröders am Grab seines Vaters im rumänischen Ceanu Mare im August. Für Kriegsgräber ist seit 1919 der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zuständig, deren Brandenburger Vizechefin Erdmute Labes nahezu zwangsläufig geworden ist.

Dafür interessiert sich die „Nationale Opposition“ um so mehr. Auch in diesem Jahr soll es wieder zum „Ehrenaufmarsch für den deutschen Frontsoldaten“ kommen. Und damit sich alle langfristig darauf einstellen können, hat Neonazi Christian Worch aus Hamburg schon Heldengedenkfeiern bis 2020 angemeldet – und an diesem Sonnabend exakt 60 Kränze.

In den Wäldern verrotten weit mehr Tote, als Lebende in den Städten und Dörfern ringsum wohnen – weggeworfenes Menschenmaterial der letzten Kesselschlacht des Zweiten Weltkrieges. Der Wehrmachtsbericht log am 27. April 1945: „Im Raum südlich Fürstenwalde stießen unsere Verbände im Angriff nach Westen in die tiefe Flanke der im Süden von Berlin operierenden Bolschewisten.“ Der sowjetische Befehlshaber, Marschall Shukow, formulierte das in seinen Erinnerungen so: „Der Ring um die feindlichen Truppen südöstlich von Berlin … schloss sich fest.“

Das kam der Wahrheit schon weit näher. Die Reste der 9. Armee, die zu den Amerikanern nach Westen durchbrechen wollten, wurden hier im April 1945 von der 1. Ukrainischen und der 1. Belorussischen Front in die Zange genommen – und „aufgerieben“. General Theodor Busse, der eine Kapitulation abgelehnt hatte, konnte sich absetzen, der Rest liegt seitdem im Wald.

„So verscharrt man noch nicht mal einen Hund!“, ereifert sich Pastorin Labes ein wenig. Das Frühjahr 1945 war warm, wochenlang habe es nach Verwesung gerochen. Da, wo die Toten gerade lagen, wurden sie von den Einheimischen, meist Frauen, unter Aufsicht der Roten Armee vergraben. So waren die Soldaten aus den Augen. Nicht unpraktisch für die neuen Herren, die bald mit der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ begannen und für die deutsche Soldaten oft nur eines waren: faschistische Handlanger.

Die meisten russischen Soldaten wurden auf den Soldatenfriedhof Seelow im Oderbruch gebracht, die deutschen landeten im Wald – bis auf die über 20.000 deutschen Soldaten, die die DDR dann in Halbe hat bestatten lassen. „Das ist ein Alibi-Friedhof“, sagt Erdmute Labes. Warum? „Die DDR hatte bei ihrer Gründung die Genfer Konvention anerkannt.“ Die Konvention sah auch Mindeststandards für die Bestattung gegnerischer Gefallener vor. Was waren die deutschen Soldaten? Gegner? Das wohl nicht. Freunde? Erst recht nicht. Und das Wort Altlasten gab es noch nicht.

Mehr Wald als Friedhof

Der damalige Ortspfarrer Ernst Teichmann hatte jahrelang Druck gemacht, so dass man ab 1951 ein paar Hektar kommunalen Wald zum Friedhof umwidmete, um wenigstens einen Teil der Toten aus den Wäldern zu holen: Wehrmachtssoldaten, auch SS-Angehörige, einige Zivilisten und Zwangsarbeiter. Und da man gerade beim Umschaufeln war, fuhr man 1952 auch die 4.500 Toten aus dem ehemaligen sowjetischen Internierungslagers Ketschendorf bei Fürstenwalde nach Halbe und setzte sie anonym bei. „April 1945“ log man als Todeszeitpunkt auf den Steinen. Ein Schädlingsbekämpfer hat die Umbettung vorgenommen, sagt Erdmute Labes.

Dass sie zu dieser Aufgabe gekommen ist, war eigentlich Zufall. Als sie 1982 eine neue Stelle suchte, um ihrer Heimatstadt Berlin wieder näher zu sein, bot sich Märkisch Buchholz an, und zu deren Gemeinden gehörte das Nachbardorf Halbe samt Waldfriedhof. Zur DDR-Zeit war die Betreuung der Pastorin eher eine ideelle: Beerdigen durfte sie auf dem kommunalen Friedhof nicht. Wenn Knochen gefunden wurden, etwa bei Schachtarbeiten, wurden die Gebeine ohne Zeremonie verscharrt.

„Bis zur Wende dachten alle, das wird weniger“, erinnert sie sich. Wurde es auch. Bis nach dem Mauerfall die ersten Westautos im Wald auftauchten. „Am Anfang war das ja alles ein rechtsfreier Raum“, sagt sie. Für Militariasammler muss es ein Paradies gewesen sein. Im Westen war das meiste schon abgegrast und umgegraben. Hier im Osten liefen sie durch den Wald mit Sonden und wühlten wie Trüffelschweine im Boden. Und 1992 lagen dann die ersten Knochen in der Waschküche.

„Militariasammler, das ist so’n Spektrum.“ Erdmute Labes öffnet die Arme: Die einen suchen nach Goldringen und Zähnen, die anderen nach Munition, wieder welche nach Koppelschlössern und Orden, und wieder andere suchen Tagebücher und Briefe. „Der Tote ist da nur eine unangenehme Beigabe.“ Seit 1994 ist es nach dem Brandenburgischen Kriegsstättengesetz zwar verboten, nach Kriegsgräbern zu graben, aber es gibt genügend Sammler, die sich nicht drum scheren, und es gibt zu wenig Polizei.

Und wenn die Sammler fündig geworden sind und ihre Trophäen eingesackt haben, sammeln sie die Knochen in eine Tüte und bringen sie Erdmute Labes in die Waschküche, der Schlüssel hängt rechts neben der Tür. Jedenfalls die „besseren“ unter den Sammlern. Es gibt auch andere. Ein Sammler habe ihr am Telefon drei Fundstellen genannt, doch bevor der Umbetter eintraf, waren bei zweien die Stahlhelme geklaut – inklusive Schädel. Das bringt Geld auf dem Schwarzmarkt.

Wie ein Volk, das keine Heimat mehr hat, lagern die Toten im Wald. Die DDR wollte sie aus ideologischen Gründen nicht haben, und das vereinte Deutschland redet lieber über den Mauerfall. Kriegsgräber stehen da nicht auf dem Plan. „Brandenburg hat kein Geld“, sagt Erdmute Labes. Die Wälder müssten vorher von Munitionsresten gesäubert werden. Als der Volksbund vor zehn Jahren ein 300 mal 200 Meter großes Waldstück vom Munitionsbergedienst räumen ließ, hat das fünf Tage gedauert, und allein die Sachkosten beliefen sich auf 36.000 Mark. Sechs Hektar, von tausenden. Doch ohne Munitionsbergedienst geht kein Umbetter da rein. Nur die Militariasammler.

Mehr Sammler als Nazis

„Mir ist es wichtig, dass die was bringen, um möglichst viele Schicksale zu klären“, sagt die Pastorin. Deswegen deckt sie die Sammler und begründet das mit ihrem Schweigerecht, als hätte sie denen die Beichte abgenommen. Was sind das für Menschen? Erdmute Labes redet summarisch von Leuten, die jung sind, die ein persönliches Interesse haben, die Vater oder Großvater im Krieg verloren haben, die teilweise aus der Bundeswehr kommen. Mehr nicht.

Woher wisse sie denn, dass die Gebeine auch tatsächlich alle von gefallenen Soldaten stammen? Erdmute Labes fängt an: In der Art wie feine Wurzeln um die Knochen gewachsen sind, sieht man, dass die das entsprechende Alter haben. Bei so viel Anschauungsmaterial ist eine gewisse Routine nicht abzustreiten. Erdmute Labes wird wohl bis zur Rente weiter so praktizieren, sollte sich die Aufmerksamkeit für Kriegstote nicht grundlegend erhöhen. Hinten in der Waschküche werden immer wieder Knochen auftauchen, als ob sich die Toten selbst auf den Weg machten, um ordentlich beerdigt zu werden. „Einer muss es ja machen“, sagt sie. Leidenschaft ist das nicht.