: „Wenn Israel Barghuti nicht freilässt, droht das Chaos“, sagt Khalil Schikaki
Nach Arafats Tod liegt die Macht in Palästina auf der Straße. Viel hängt davon ab, ob Wahlen möglich werden
taz: Herr Schikaki, viel hoffen, dass die neue palästinensische Führung eine andere, weichere Haltung zum Rückkehrrecht, zu Ostjerusalem und der Grenzfrage einnehmen wird. Ist das realistisch?
Khalil Schikaki: Nein. Die palästinensische Öffentlichkeit betrachtet den Standpunkt Arafats und der so genannten alten Garde, die die Autonomiebehörde trägt, in diesen Punkten als mehr oder weniger akzeptabel. Die wichtigste Frage bleibt, ob das Rückkehrrecht so umgesetzt werden kann, dass es die Bedürfnisse der Palästinenser und die der Israelis erfüllt.
Nun glauben viele, dass Arafat ein Hindernis im Friedensprozess war – und es ohne ihn besser wird.
Nein, die Israelis haben ihn zu einem Hindernis gemacht. Unter seiner Führung wurden von Camp David bis zu den Verhandlungen in Taba enorme Fortschritte gemacht. Wenn die Israeli bereit gewesen wären, mit Arafat zu verhandeln, wären weitere Fortschritte möglich gewesen.
Wie geht es nun nach Arafats Tod in Palästina weiter?
Da Arafat krank war und sein Tod nicht durch Gewalt verursacht worden ist, wird die Übergangsperiode reibungslos ablaufen. Die Übergangsregierung wird dagegen vermutlich gelähmt bleiben. Die palästinensischen Institutionen sind in den vergangenen Jahren, auch schon unter Arafat, irrelevant geworden. Die Macht ist längst in den Händen jener, die auf die Israelis schießen, die die Straßen kontrollieren, nämlich der Aksa-Brigaden und der Islamisten.
Kann die Autonomiebehörde, die in den Händen der so genannten alten Garde, der PLO-Elite, ist, dagegen etwas tun?
Wenn sie ihre gegenwärtige Lähmung überwinden will, muss sie drei Sachen tun: Erstens muss sie sofort ein Datum für Parlaments- und Präsidentenwahlen nennen. Zweitens muss sie mit der jungen Garde eine Koalition bilden – dafür müssten interne Wahlen innerhalb der Fatah zugelassen werden –, um sie in die Regierung einzubringen.
Wen meinen Sie mit junger Garde?
Die junge Garde kommt aus Westjordanland und Gaza, sie hat die erste Intifada organisiert, und sie ist kaum in den Institutionen der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) vertreten. Sie hat keine klare Führungshierarchie wie die alte Garde, die zur PLO-Elite gehört. Dazu gehören Marwan Barghuti, viele der jungen Fatah-Mitglieder des palästinensischen Legislativrates und einige ehemalige Sicherheitschefs wie Mohammed Dahlan. Gerade die Sicherheitsdienste bestehen aus Mitgliedern der jungen Garde. Auch die Aksa-Brigaden, auf die Israel Mordanschläge verübt, gehört dazu. Viele Mitglieder der jungen Garde, mehr als 7000, sind in israelischen Gefängnissen.
Aber Barghuti sitzt in Israel im Gefängnis …
… ja, und er muss freigelassen werden. Denn Barghuti könnte der alten Garde helfen, diese schwierige Zeit zu überwinden. Wichtig ist für die PLO-Elite zudem, dass die Israelis mit ihren gezielten Mordanschlägen aufhören. Sollten die alte und die junge Garde eine Koalition bilden, müsste Israel zudem die eigene Waffenruhe respektieren. Unter diesen Bedingungen könnten Wahlen die Chance dafür darstellen, dass ein demokratisches palästinensisches politisches System entsteht.
Ist es denn vorstellbar, dass Israel mit einer palästinensischen Führung, zu der Mitglieder der Aksa-Brigaden gehörten, verhandelt?
Wenn Israel einen demokratischen Nachbarn haben will, muss es jedes Ergebnis demokratischer Wahlen anerkennen. Es ist gut möglich, dass Mitglieder der Aksa-Brigaden sich für die Wahl aufstellen lassen und dass einige gewinnen werden. Aber bei den Aksa-Brigaden sprechen wir nur von einigen hundert Mitgliedern. Die politische Führung der jungen Garde hingegen umfasst Personen wie Barghuti. Die Frage ist, ob die Israelis ihn freilassen und als Ministerpräsidenten – der er werden könnte – akzeptieren würden.
Die Israeli lehnen eine Haftentlassung Barghutis aber ab.
Das ist aber eine der Bedingungen, unter denen die alte Garde die Macht der Straße brechen könnte und ein friedlicheres israelisch-palästinensisches Verhältnis greifbarer würde. Wenn die Israelis Barghuti nicht freilassen, riskieren sie den Kollaps der palästinensischen Übergangsregierung.
Präsident Bush unterstützt Wahlen innerhalb von 60 Tagen. Ist das realistisch?
Was bedeutet das genau: Wahlen unterstützen? Heißt das, die Amerikaner vertrauen darauf, dass die Israelis sofort die Besetzung der Städte beenden und die Kontrollpunkte beseitigen, sodass die Palästinenser zu den Urnen gehen können? Nur dann können die Palästinenser Wahlen abhalten. Die Israelis müssten auch die Büros zur Registrierung der Wahlstimmen in Ostjerusalem, die sie geschlossen haben, wieder öffnen. Nimmt man an, dass die Amerikaner Wahlen erlauben und die Israelis sie nicht behindern, dann ist in etwa drei bis vier Monaten mit palästinensischen Wahlen zu rechnen.
Wird Scharon seinen Rückzugsplan aus Gaza wie geplant verwirklichen?
Ich rechne damit, dass Scharon mit seinem Rückzugsplan so weitermachen wird wie bisher. Ob mit der PA über den Abzug verhandelt wird, hängt davon ab, ob sie die tatsächliche Führung übernehmen kann. INTERVIEW:
MONIKA JUNG-MOUNIB